Wach (German Edition)
Jahren an diesem Becken die Hände gewaschen hat; er sieht dem Raum, den er einmal bewohnt hat, beim Verschwinden zu, und ihm ist, als betrachte er sein eigenes Leben vom Rand aus. Soll er das Waschbecken mitnehmen? Abfall entwenden ist Diebstahl, außerdem ist es zu schwer. Mit dem Handy fotografiert er die Telefonnummer der Verkaufshotline.
Wieder auf der Straße, sieht er ein Kleinkind beim Versuch, mit dem Dreirad eine Rollstuhlrampe hinaufzufahren. Mit rotem Kopf, die Adern auf der Stirn geschwollen, keucht es vor Anstrengung und nimmt um sich herum nichts wahr. August bemerkt, dass er sich nicht nach der alten Wohnung sehnt, sondern nach dem Menschen, der er damals war; obwohl dieser Zwanzigjährige ihm verdruckst und glücklos erscheint, hat er doch ein Leben voller Löcher und Lücken geführt, mehr Zukunft als Gegenwart. Eine Haustür geht auf, eine Frau ruft das Kind zum Abendessen herein. Während die Tür sich hinter Kind und Dreirad schließt, fragt sich August: Was mache ich hier? Er sucht ja immer nur Vergangenheit und Verfall. Wenn man durch Straßen geht, verzerrt sich alles, auf den Straßen ist die Vergänglichkeit übermäßig sichtbar. Aber das Leben in den Wohnzimmern, an den Arbeitsstätten, in Vereinen, Kirchen und Moscheen sieht man nicht, es ist von draußen unsichtbar. Dass er immer nur das Abweichende sucht, kommt ihm jetzt wie eine Anmaßung vor, so, als würde er behaupten, das Normale ohnehin zu verstehen.
Er betrachtet Klingelschilder: Formen, Zustände, Namen. Oft überrascht es ihn, wie viele Klingelschilder ein unscheinbares Mietshaus hat. So groß ist also dieses Haus (oder so klein die Wohnungen). An einer Haustür sind alle Messingschilder blank poliert, nur eins nicht. Wohnt da ein einzelner schlampiger Mensch in einem ordentlichen Haus? Oder hat der Hausmeister absichtlich um dieses eine Schild herumgeputzt? Ein Schild auszulassen scheint umständlicher, als es mitzuputzen. Oder besteht das eine Schild aus minderwertigem Messing, das schneller blind wird? Woanders steht auf einem neu angebrachten Klingelschild Unbekannt . Dieser Scherz ist August zu forciert, und er erinnert ihn an einen Wochenendtrip mit Susanne nach Wien, wo auf den Klingelschildern keine Namen, nur Nummern stehen (so weit ist dort die Aufklärung getrieben).
An der Tür eines Sozialbaus stehen nur türkische, an der Tür des gegenüberliegenden Gründerzeithauses nur deutsche Namen; da haben die Türken die schönere Aussicht. Als August zählen will, wie viele Parteien in dem türkischen Haus wohnen, geht die Tür auf, und ein älterer Mann kommt heraus. «Zu wem möchten Sie?», fragt er, ehe August sich abwenden kann, da denkt August sich schnell einen Namen aus: «Gülöglu.» «Sechster Stock links», antwortet der Türke und hält ihm die Tür auf. Nanu? Hat er etwas falsch verstanden? Den Namen gibt es doch wohl gar nicht. Im Hausflur steht ein Fuhrpark von Kinderwagen. Der Fahrstuhl funktioniert nicht, wegen Vandalismus , darum steigt August zu Fuß sechs Etagen hoch. An den Treppenhauswänden stehen unbeholfene Tags, Beschimpfungen, Liebeserklärungen, vor Wohnungstüren sind Fahrräder festgekettet an eingelassene Ringe, im vierten Stock hat jemand Topfpflanzen aufgestellt. Vor der Tür mit der Aufschrift (tatsächlich) Gülöglu zögert August. Soll er klingeln? Unter welchem Vorwand? Vielleicht ist ohnehin niemand da. Ob hier eine große Familie wohnt? Oder alte Leute, oder ein einzelner junger Mensch? Schließlich will August seine so zarte Verbindung mit dem oder den Gülöglus nicht aufs Spiel setzen, deshalb geht er.
Er schleicht durch Treppenhäuser, guckt sich Briefkastenschlitze, Wohnungstüren, Fußmatten an. In einer ärmlichen Gegend findet er ein unerwartet herausgeputztes Treppenhaus, an den Wänden hängen Drucke von Dalí und Miró, Blümchen und Schleifen, wer hat das alles besorgt? Ein im Haus wohnender Eigentümer, ein engagierter Hausmeister, eine aktive Mieterin? Wenn Tore offen stehen, geht er in Hinterhöfe. Manchmal lassen sich verwinkelte Systeme finden, verborgen vor der Straße, eine Stadt hinter der Stadt; August wäre gern Briefträger oder Müllmann, um die Straßenzüge mit anderen Augen erforschen zu können. Oft ist von der Fassade nicht auf den Charakter der Höfe zu schließen, hinter leuchtenden Fronten verbergen sich trostlose Schächte, bloße Müllstandsflächen, während hinter ranzigen Vorderseiten überraschende Gärten liegen; gerade ist August vor
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