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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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Klinken springt (eine Wohnung voll verschlossener Türen). Die Schlafzimmer sind von innen versperrt, die anderen Zimmer vom Flur aus, die Schlüssel stecken. Nur die Wohnzimmertür steht offen, Licht brennt: Da sitzt Augusts Schwester auf dem Sofa, mit einem Buch und einer Flasche Barolo bei geöffnetem Fenster. Alle Spuren der Feier sind schon beseitigt, der ausziehbare Esstisch abgewischt und eingeschoben, es ist aufgeräumt und gefegt. «Was liest du?», fragt August, und die Schwester zeigt ihm wortlos den Buchdeckel: ‹Drei Sechser warf mir dieser Feuerschein›. Zur Semantik des Würfelspiels bei Aischylos und Euripides. «Kommst du mit auf einen sentimentalen Spaziergang?», fragt er, sie schüttelt den Kopf, nimmt ihr Glas und liest weiter. Im Hinausgehen denkt August, sie sollte nicht so viel trinken. Als er die Haustür hinter sich zugezogen hat, steigt er die Kellertreppe hinab. Sofort fühlt er sich heimisch im vertraut modrigen Geruch. Früher war der Keller für ihn, natürlich, eine Wunderkammer, heute scheint er ihm ein Raum, in dem ein Unmaß von Zeit gespeichert ist, denn all die Dinge, die hier lagern, Küchenschränke, Stühle, Schuhe, abgelegte Kleidung, Gebrauchsanweisungen, Konzertprogramme, haben keinen anderen Zweck, als Vergangenheit zu beglaubigen; doch statt die Zeit unter Verschluss zu halten, hat die Sammelei die Vergangenheit anschwellen lassen, bis die Gegenwart unter ihr verschwunden ist. August würde gern in den Dingen stöbern, aber er sieht die verheerende Wirkung auf seine Stimmung voraus und geht

    mit aufgespanntem Regenschirm quer über die Straße. In der feuchten, kühlen Luft fühlt er die Lähmung, die ihn in der Wohnung befallen hat, von sich abfallen. Wenn er zu Besuch kommt, ist es jedes Mal dasselbe (wahrscheinlich kommt er deshalb so selten), er ist antriebslos, entscheidungsschwach, neigt, die Brust wie eingeschnürt, zum fortwährenden Rumsitzen. Jetzt, draußen, denkt er darüber nach: Die Lähmung kommt also nicht aus seinem Schwerkraftappartement, auch nicht aus der Mall, sondern er schleppt sie seit seiner Kindheit mit, oder es ist eine Beklemmung gegenüber jeder Art von Zuhause. Erst nach einer Weile fällt ihm ein, dass er im Keller die Kisten mit der Holzeisenbahn hätte suchen können, Kilometer von Gleisen in seiner Erinnerung, das wäre doch was für Pit. In einiger Entfernung sieht er jemanden auf sich zukommen; gleich biegt die Gestalt in eine Querstraße ab, wie um August zu meiden. So haben beide weiter die Nacht für sich, eine besondere Nacht, die wahrhaft längste Nacht des Jahres, denn die Stunde zwischen zwei und drei wird verdoppelt; wer in der Zeitumstellung schläft, schläft tief und aus, und wer jetzt wach ist, wird es lange bleiben.
    Nicht nur das Kind, das er war, auch die Plätze seiner Kindheit tun August leid, wenn er sie jetzt sieht: Sie kommen ihm verraten und vergessen vor, ungeheuerlich, dass ein Spielplatz so verlassen daliegen kann. Es ist natürlich zwei Uhr nachts; aber das Flugzeug ist ja weg, das Flugzeug! Auf dem Spielplatz stand immer ein buntes Gestänge, etwas verrostet, ein Klettergerüst in Form eines Flugzeugs. Der Spielplatz ist vollständig erneuert, bebaut mit neuen skandinavischen Holzgeräten, winkelreichen Burgen und Spitztürmen, spektakulären Hängebrücken, Mehrfachwippen, Spiralrutschen und langen Seilbahnen, Wasserfällen und Pumpen; was für eine tüchtige Bezirksverwaltung, denkt August, was für ein Unglück. Er kommt an lauter Orten vorbei, die ihre Verzauberung verloren haben, ein Hauch von Magie liegt höchstens noch im Verlust dieses Zaubers: Das sollen einmal Wunderorte gewesen sein? Am S-Bahnhof liegt ein mit Brettern beschlagener Pavillon mit Butzenscheiben: die Blaue Stute. Er ist oft an der Blauen Stute vorbeigegangen, immer hat er sich gegruselt. Es brennt noch Licht, er könnte hineingehen und ein Bier trinken, aber die Enttäuschung ist vorhersehbar. Und so biegt er auch jetzt nicht ein in die Seitenstraßen, in die er nie gegangen ist, Straßen ohne Besonderheit, außer dem Geheimnis, dass es in der Gegend, die er so genau kannte, nie betretene Wege gab.
    Er kommt auf den vertrautesten. Das Kernstück des Schulwegs war die gerade Straße, die, schätzt er jetzt, zweihundert Meter lang sein mag; als er klein war, ist sie ihm endlos erschienen, unabsehbar; in bösen Träumen kam oft diese Straße vor, er geht zur Schule, setzt Fuß vor Fuß, und kommt doch nicht vom Fleck, kein Stück vom

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