Wachgeküßt
britisches Klima, die dafür aber ihre Bräune zur Geltung bringen.
Ericas Flug hat Verspätung, aber das ist mir egal. Ich mache einen Schaufensterbummel, kaufe mir ein überteuertes Sandwich, einen frisch gepreßten Saft und eine Zeitschrift und lasse mich mit einem zufriedenen Seufzer in einen der verstellbaren Wartesessel sinken. Ich esse, lese und beobachte die Leute um mich herum, bis die Monitore schließlich ankündigen, daß Ericas Flug gelandet ist.
Typisch – sie ist eine der ersten, die in der Ankunftshalle erscheinen. Ein Träger schiebt unterwürfig einen Wagen hinter ihr her, auf dem sich Louis-Vuitton-Taschen stapeln. Die Augen hat er fest auf ihren knackigen Po und die langen, schlanken Beine geheftet.
Meine Schwester sieht aus wie das Ich, das ich gerne wäre. Schlanker, größer und viel, viel schöner. Das Haar ist dunkler, kürzer und glänzender, die Augen größer, brauner und mit langen Wimpern versehen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt? So etwa meine ich auszusehen, wenn ich einen guten Tag habe – bis ich der Wahrheit ins Auge sehe, wenn ich in einen Spiegel schaue. Erica ist elegant, erfolgreich, selbstbewußt. Ist sie wirklich meine Schwester?
Ich habe ja den Verdacht, daß ich adoptiert wurde, aber bisher weigern sich meine Eltern, das zu bestätigen.
»Alex, du meine Güte, bist du gewachsen!« ist das erste, was sie sagt, als sie mich auf eine alles andere als elegante Art umarmt und mir ihre knallroten Lippen auf beide Wangen drückt. Sie lebt und arbeitet jetzt seit fast drei Jahren in New York und hat sich
eine leicht kehlige amerikanische Aussprache zugelegt. Sie riecht teuer, nach einem Parfüm, von dem jede Unze über dreihundert Dollar kostet, und nach Designerwolle, die wahrscheinlich über hundert Dollar oder so pro Quadratzentimeter kostet.
»Erica! Ich bin fast achtundzwanzig. Ich habe vor etwa zehn Jahren mit dem Wachsen aufgehört«, protestiere ich und befreie mich verlegen aus dieser schwesterlichen Umarmung.
»Na, dann sind halt einfach die Absätze hier höher. Du bist mir doch immer nur bis zur Nasenspitze gegangen.«
»Das macht der Stein, der mir vom Herzen gefallen ist, als ich Max verlassen habe«, murmele ich verdrießlich und streiche meine Jacke glatt. »Der hat mich immer bedrückt.«
»Ah, ja. Max.«
Als das M-Wort fällt, umarmt sie mich wieder. Dann hält sie mich auf Armeslänge an den Schultern gepackt von sich, und ihr perfekt geschminktes Gesicht wird überflutet von Mitgefühl, als sie mich betrachtet.
»Wie fühlst du dich?«
»Gut.«
»Bist du sicher?« Sie runzelt ihre normalerweise makellose Stirn.
»Klar bin ich sicher. Sind das alles deine Sachen?«
»Natürlich.«
»Du weißt aber, daß Ren nur ein freies Zimmer hat. Für all die Sachen brauchst du ja ein extra Zimmer.«
»Ihr Angebot ist wirklich lieb, aber ich gehe auch gerne in ein Hotel, weißt du?«
»Nie im Leben! Ich will freien Zugriff auf dich haben, während du hier bist. Du sollst nicht in einem Designer-Hotel hocken, in das ich nicht hineingelassen werde, weil ich zu gewöhnlich bin.«
Erica lacht und hakt sich bei mir unter.
»Natürlich, wie gedankenlos von mir, klar willst du mich in deiner Nähe haben... keine Sorge, Kleines, die große Schwester
ist wieder da. Ich kümmere mich um dich – und ich fange damit an, daß ich diesem Hurensohn Max mal den Kopf wasche!«
Sie schleift mich quer durch die Flughafenhalle zu den Schiebetüren am Ausgang. Der Träger flitzt ungefragt hinter uns her, als ob seine Gelüste ihn an den Gummibund ihres Höschens gefesselt hätten.
»Danke für das Angebot, aber ich glaube nicht, daß dieser Hurensohn Max eine Kopfwäsche braucht. Dafür hat er mehr oder weniger schon selbst gesorgt.« Ich atme tief durch, und dann erzähle ich ihr, was ich bei unseren letzten Telefongesprächen ausgelassen habe. »Er wird heiraten.«
Erica sieht zu, wie der Träger ihr Gepäck in den Kofferraum des Taxis lädt, reicht ihm mit einem huldvollen Lächeln eine Zwanzigpfundnote und dreht sich dann, immer noch lächelnd, zu mir um.
»Weißt du, ich könnte schwören, du hast gerade gesagt, daß Max heiratet«, sagt sie ruhig und schlägt ihre endlos langen Beine auf dem Rücksitz des Taxis übereinander. Der hechelnde Träger bleibt nach dem Empfang des Trinkgeldes noch in unserer Nähe, bloß um das Vergnügen zu haben, ihr die Tür aufhalten zu dürfen.
»Wahrscheinlich, weil ich es tatsächlich gesagt habe«, antworte ich und kraxele
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