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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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im Dunkeln, als er zurückkam. Es erinnerte ihn, während er sich die Treppen hinauftastete, an die Tage, als Old Hugos Vater gestorben war und die Tanten das Haus in Tieftrauer versetzt hatten. Sie hatten noch nie einen Todesfall gehabt, aber sie wußten genau, wie sie sich und das Haus einzukleiden hatten, wo sich schwarze Sachen fanden und wie weit man die Gardinen zuziehen mußte, auf welcher Wellenlänge religiöse Programme gesendet wurden und was mit all den lächelnden Illustrierten zu tun war.
    Die Schlafzimmertür war versperrt.
    »Ich fürchte, sie schläft schon«, rief Mrs. Groat aus der Küche.
    »Ah-ha.«
    Auf dem Kinderbett war ein Handtuch bereitgelegt und daneben seine Zahnbürste. Hugo schlief. Cassidy zog sich langsam aus, glaubte noch immer, daß sie hereinkommen werde, dann beschloß er, sich zu rasieren, um seine Schwiegermutter zu ärgern. Die Verbitterung ging auf Marks Geburt zurück, den Sandra zu Hause zur Welt gebracht hatte. Sandra hatte gesagt, es werde nicht weh tun – sie hatte Bücher gelesen, die jeden Schmerz in Acht und Bann taten –, indes erwies ihr Vertrauen sich als ungerechtfertigt. Bald war das Haus von ihren schrillen Schreien erfüllt gewesen, da sie Penthotal hartnäckig ablehnte, und ihre Mutter hatte in der Küche geschluchzt und sich der eigenen Kämpfe erinnert, wie ein Boxer, der sich aus dem aktiven Sport zurückgezogen hat. »O Gott , ihr Männer!« hatte sie Cassidy angeschrien, als er für Zwecke, die er sich nicht vorzustellen wagte, Wasser heiß machte. »Gott, wenn ihr nur wüßtet …« Schuldgequält, aber wütend über diese, wie ihm schien, widerliche Zurschaustellung weiblichen Sichgehenlassens, hatte Cassidy die einzige männliche Prärogative ausgeübt, die ihm noch geblieben war. Er hatte sich rasiert.
    Aus ähnlichen Gründen überkam ihn jetzt der gleiche Impuls. Er knöpfte sein Hemd auf, schwenkte den Rasierapparat in heißem Wasser, ließ den Pinsel auf die Glaskonsole klirren und rasierte dann unnötigerweise sein erstaunlich jugendliches Gesicht.
     
    Sie ließ ihn lange warten.
    »Ich weiß, daß du wach bist«, sagte sie. »Ich höre es an deinem Atem.«
    Sie stand unter der Tür des Kinderzimmers, ihre Silhouette hob sich gegen das Treppenlicht ab, und er stellte sich ihr Gesicht vor, das von verständnislosem Groll verkrampft war. Sie mußte schon eine ganze Weile dort stehen, denn er hatte ihren ersten Seufzer vor zehn Minuten gehört.
    »Du hast keine Spur von Anstand«, fuhr sie ruhig in ihrem Opheliaton fort. »Du hast nicht einen Fetzen Takt oder moralisches Rückgrat oder menschliches Mitgefühl. Du hast keinen einzigen Instinkt, der auch nur halbwegs ehrenhaft wäre. Ich weiß genau, daß du wieder lügst. Warum gibst du es nicht zu?«
    Cassidy grunzte und bewegte einen Arm in ruhelosem Schlummer, doch sein Hirn arbeitete fieberhaft.
    Ich lüge . Ja . Ich habe dich immer belogen und werde es immer tun , und so oft du mich auch erwischen magst , ich werde dir nie die Wahrheit sagen , denn du weißt mit ihr nicht mehr anzufangen als ich . Aber diesmal , ein Witz ist das , lüge ich , weil ich anfange , die Wahrheit zu entdecken , und die Wahrheit , mein Engel , liegt außerhalb unseres Ichs .
    Er wartete.
    Silentium .
    Oder wie wär’s mit einer akademischen Abhandlung der Frage , obwohl du kein Examen abgelegt hast? Wenn mir alle die von dir genannten Eigenschaften fehlen , und um der Diskussion willen will ich gern einräumen , daß dem so ist , wie sollte ich dann den Anstand , den Takt und das moralische Rückgrat besitzen , es zuzugeben?
    Silentium .
    »Ich nehme an, du nimmst A. L. Rowse«, schlug sie boshaft vor, »statt meiner.«
    Cassidy zog die Decken hoch und vollführte seine Schwanennummer, ließ den Kopf über dem morastigen Wasser der Dingsdaschleuse schwanken.
    »Wer war dieser Russe, der dich angerufen hat?«
    Ich weiß nicht .
    »Wer war dieser Russe, der dich angerufen hat?«
    » Lenin .«
    »Aldo!«
    Ein Geschäftsfreund . Wie zum Teufel soll ich es wissen?
    »Offen gesagt«, sagte Sandra traurig, »klang er sehr komisch.«
    Offen gesagt , dachte Cassidy, ist er es auch .
    Gehen . Wachsen . Bleiben .
    »Du bist ein ausgesprochenes Kind. Was Homosexuelle immer sind. Du kannst dich nicht abfinden mit Menstruation, Babys, Tod oder sonst irgend etwas . Du hast absolut keinen Sinn für die Wirklichkeit. Du willst die Welt hübsch und adrett und erfüllt von Liebe zu Aldo.«
    Sie wurde böse.
    »Nun, die Welt ist

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