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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kuttner
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ich auch gern nur in Unterwäsche umziehen, denn bereits um acht Uhr morgens ist es so heiß, dass ich das Gefühl habe, meine Haut könnte sich jeden Moment vom Körper lösen. Nachdem ich das letzte Mal in meiner Wohnung geduscht habe, sitze ich mit so wenig Kleidung am Körper, dass ich noch geradeso als leicht bekleidet, nicht aber als obszön durchgehe, an meinem Fenster, rauche eine unnötige Zigarette nach der nächsten und warte auf die Umzugshelfer. Ich bin aufgeregt. Dieses große Erste Mal geht mit vielen Letzten Malen einher, eine brisante und mich überfordernde emotionale Mischung. Als Rieke gegen Mitternacht gegangen ist, hat sie meine Lässigkeit mitgenommen. Auf einmal war nichts mehr übrig von der schlichten, sorgenfreien Vorfreude. Mein Eierlikörwattekopf polterte plötzlich erbittert, der Versuch zu schlafen, war vollkommen aussichtslos, und auch konstantes, wenn auch etwas träges Masturbieren konnte mich nicht beruhigen.
    Nach dem dritten leidenschaftslosen Orgasmus wurde mir meine Umzugskartonburg zu eng, und ich verteilte die pappenen Wandbausteine wieder im gesamten Zimmer.
     
    Als es endlich an der Tür klingelt, flutet mich erneut Panik. Ich habe schlagartig das Gefühl, nicht mal annähernd bereit zu sein. Mich noch gar nicht ausreichend verabschiedet zu haben, von meiner Wohnung, meinem Leben!
    Flo steht allein vor der Tür, im Gesicht ein schiefes Lächeln, in der Hand einen Pappträger mit zwei Heißgetränken.
    »Kaffee?«
    »Bäh!«
    »Kuss?«
    »Gern.«
    Flo riecht den Braten, den sein Mädchen im Ofen hat, stellt die Becher noch im Hausflur ab und vergräbt mich in einer Umarmung. Er verhindert grade noch rechtzeitig, dass Tränen auf den abgewetzten Linoleumboden fallen.
    »Wo sind die anderen?«, weine ich in seine Achselhöhle.
    »Kommen erst in ’ner halben Stunde. Ich dachte, dass du vielleicht erst noch ein bisschen in Ruhe heulen möchtest.«
    »Du hast gewusst, dass ich heulen würde?«, frage ich, fast ein wenig konsterniert, und wische meine Rotznase unauffällig an Flos Hemd ab.
    »Ich habe es ein bisschen geahnt. Aber vor allem dachte ich, dass wir vielleicht noch ein wenig zu zweit sein wollen, bevor es richtig losgeht.«
    »Weil wir uns ja sonst kaum noch sehen werden ab jetzt, wa?«
    Flo zeigt mir einen Finger und schiebt mich vorsichtig von sich weg in meine Wohnung zurück. Ein Rotzfaden verbindet uns auf romantischste Art und Weise, bis der Abstand so groß wird, dass er reißt.
    »Sicher keinen Kaffee?«, fragt er und hebt den Pappträger vom Boden auf.
    »Bei der Hitze? Ungefähr genauso gerne wie einen Schweinebraten mit Klößen!«, sage ich und rolle die Augen.
    »Muffelpeter! Bei heißem Wetter soll man heiße Getränke trinken, das kühlt von innen. Oder so.«
    »›Galileo‹-Wissen?«
    »›Galileo‹-Wissen!«
    Weil Flo jetzt nicht mehr zurückkann, trinkt er tapfer seinen eigenen Kaffee und sieht mich mit leicht gerunzelter Stirn an. »Du willst nach wie vor mit mir zusammenziehen, oder?«
    »Du meinst, ich kann es mir noch mal überlegen?«, frage ich und schäme mich umgehend. Dieser Moment der Unsicherheit gehört nicht mir allein, es ist grausam, mit Flos Ängsten zu spielen, also streiche ich ihm über den bereits verschwitzten Haaransatz und küsse seine feuchte Stirn. »Entschuldige. Ich will ganz dringend mit dir zusammenziehen! Ist nur plötzlich so … plötzlich! So viel! Lauter Verabschiedungen und Begrüßungen an einem Tag!«
    Ich habe Flos Bedenken ganz offensichtlich nicht zerstreut. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen wird runzliger. Ich nehme meinen Daumen und reibe vorsichtig die Stelle. »Was soll das?«, fragt Flo.
    »Ich massiere die Falte weg!«
    »Lu, ganz im Ernst: Kriegst du grade richtig schlimmes Muffensausen, und ich muss mir Sorgen machen?«
    Ja.
    »Nein. Entschuldige. Alles gut! Ich bin nur nicht so gut mit Neuem.«
    »Du bist auch nicht besonders gut mit Altem!«, entgegnet Flo.
    »Sag ich doch! Einfach ein bisschen viel Neues und bald Altes heute. Das ist eine ganze Menge für ein Meter siebzig.«
    »Du bist nur einsfünfundsechzig!«
    »Siehste! Noch schlimmer! Aber im Ernst: Ich will das. Ich will mit dir wohnen und immer mit dir aufwachen und deine Unterwäsche waschen.«
    Flo nickt in sich hinein.
    »Wir werden das schon nicht versauen, oder?«, frage ich leise.
    »Nee. Werden wir nicht«, sagt Flo mit so viel Festigkeit in der Stimme, wie ihm grad möglich ist, was nicht besonders viel ist. Und auf einmal

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