Wachstumsschmerz
dem so russenfreien Leben einknicken. Dennoch glaube ich ja nicht an Luxusprobleme. Macht es wirklich Sinn, ein Problem immer im Verhältnis zu einem fremden, schlimmeren zu sehen? Ist eine Blasenentzündung denn überhaupt nichts wert, wenn mein Nachbar Lungenkrebs hat? Ist ein geplatzter Auftrag über einen dreiteiligen Anzug weniger schlimm angesichts Tausender Hartz- IV -Empfänger (von hungernden Kindern in der Dritten Welt mal ganz abgesehen)? Hat nicht jeder das Recht auf seine eigenen Probleme, auch wenn dies im Umkehrschluss bedeutet, dass man auch den ganzen Arschlöchern zugestehen muss, dass ein geklauter Ferrari auch scheiße ist? Ich finde, ja. Ich finde es nur fair, die eigenen Probleme am eigenen Leben zu messen. So ist die nagende Überforderung meiner Generation vielleicht nichts im Vergleich zu vergewaltigenden Russen, dennoch etwas, das die Lebensqualität und das geistige Wohl bedeutend einschränkt, schlimmstenfalls sogar zu psychischen Krankheiten führen kann.
Ich knabbere an meiner Nagelhaut und schäme mich plötzlich ein wenig über meinen so engagierten inneren Monolog. Er fühlt sich an, wie eine halbgare Rechtfertigung. Im Geiste schiele ich eben doch mit einem Auge auf den fünfjährigen »Spiegel«-Redakteur, der vor Angst zitternd in seinem Pferdekadaver liegt und irgendwie mehr Recht auf Angst zu haben scheint als ich. Ich kann also noch nicht mal meine eigenen Ängste ernst nehmen. Wie sollen es denn dann die anderen tun?
» A rne heiratet.«
»Weshalb?«, frage ich und bin wirklich verwundert.
»Nun ich nehme an, weil er Thea liebt.«
»Wer ist Thea?«
»Wow, du bist manchmal echt eine ignorante Kuh, Luise!«
Ich werde ein wenig rot, was blonden Menschen ja eher nicht so gut steht, da ich aber grad eh wenig elegant aussehe, macht es wohl keinen allzu großen Unterschied. Flo und ich führen eine semiprofessionelle Herbstbepflanzung auf unserem winzigen Balkon durch. Ich bin durchaus für bunte Blumen auf dem Balkon zu haben, ausreichend Ahnung habe ich aber keine. Flo hingegen hat sowohl einen grünen Daumen als auch ein grünes Herz. Was die Bepflanzung von Balkonen angeht, ist er ein sehr leidenschaftlicher Mann, was ich oft rührend, manchmal aber ein wenig unsexy finde. Nachdem wir den halben Nachmittag im Baumarkt Herbstpflanzen gesucht haben, ist der für mich interessante Teil nun abgeschlossen, der notwendige allerdings noch lange nicht.
Also stehen wir beide relativ gedrängt in Gartenkleidung (eigentlich nur wiederverwendete Maler-/Umzugs-/Putzkleidung) auf dem Balkon und sauen mit Erde rum. Die Stimmung ist ein wenig faltig, denn meine romantischen, an Til-Schweiger-Komödien erinnernden Vorstellungen vom Blumenkauf vertrugen sich nicht gut mit denen von Flo (oder der zuständigen Fachverkäuferin). Ich hopste die ganze Zeit zwischen den Beeten umher und zeigte wahllos auf Pflanzen mit schweren, farbenfrohen Blüten, die aber allesamt nicht herbsttauglich oder gar winterfest waren. Ich vermute, dass Flo das zwei bis drei Pflanzen lang charmant fand (ich auch!), dann aber den Spaß verlor (ich auch!) und, einer vernünftigen Beratung folgend, einfach ein paar Erikas und Astern in den Einkaufswagen stellen und lospflanzen wollte.
Da mir manchmal meine eigene Nervigkeit schon beim Ausüben auf die Nüsse geht, stolpere ich in solchen Momenten oft in einen ungesunden Teufelskreis, der zur Folge hat, dass ich wie aufgezogen nicht aufhören kann, nervig zu sein, und zusätzlich vollkommen willkürlich pissig werde. In alle Richtungen. Da Flo die einzige vorhandene Richtung war, wurde recht gezielt geschossen. Und getroffen. Manchmal sehe ich Flo unter der Last meiner Einschläge langsam zusammensacken. Beruflich bedingt hat Flo eine 1 -a-Körperspannung und eine wunderbare Haltung. Er ist ein sehr aufrechter, grader junger Mann. Im Baumarkt schob er seinen Wagen gebückt zur Kasse. Wie einer meiner Kunden im Atelier. Und spätestens in diesem Moment hätte ich mir aus der Haustierabteilung eine Reitgerte besorgen und mich selbst züchtigen sollen. Dafür, diesen sonst so aufrechten, freundlichen Mann mit grünem Herzen und der Geduld eines Schachspielers gebrochen zu haben. Davon ausgehend, dass Flo nicht noch eine einzige weitere dramatische Geste ertragen könnte, umarmte ich ihn stattdessen von hinten und legte, auf Zehenspitzen stehend, mein Gesicht an seinen Nacken. Flos Geruch versöhnt mich immer. Mit allem. Eine schöne und warme Mischung aus Haarprodukten,
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