Wachstumsschmerz
so. Weshalb sich sofort abwenden, ohne herauszufinden, was mit dem Kasseler nicht stimmt?«
Jetzt nervt mich das Kasselerbild selbst. Was ich sagen will, ist: Wenn da draußen die ganzen Möglichkeiten nahezu provokativ vor der Tür rumstehen, hat man nicht das Recht, sie zu ignorieren? Sie einfach da stehen zu lassen? Oder ist es unhöflich und unverschämt einer Welt gegenüber, die sich so viel Mühe gegeben hat mit den vielen bunten Varianten, keine davon zu nutzen?
»Puh, ich bin raus«, sagt Papa erschöpft.
»Ich auch«, sage ich, auch erschöpft, aber eigentlich noch lange nicht fertig.
Ich stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. »Soll ich noch was bestellen drinnen?«, frage ich im Gehen.
»Nee, sag nur, dass wir zahlen wollen, ja?«
Memo
Ich hab dein Rad weggestellt. Es war vollkommen zugeschneit und stand ganz allein auf dem sonst so überfüllten Hof. Alle Kinderwagen stehen jetzt im Hausflur rum, die wenigen zur Zeit benutzten Räder auch. Nur deines lehnte ganz unglücklich und ein wenig vorwurfsvoll in der Kälte. Immer wenn ich den Müll wegbringe, schaue ich, ob du es vielleicht heimlich abgeholt hast. Jedes Mal bin ich ganz unruhig, wenn ich die letzten Meter zur Mülltonne schleiche, kurz bevor ich die Ecke sehen kann, in dem es steht. Und dann bin ich immer vollkommen durcheinander, weil ich nicht weiß, ob es ein gutes Zeichen ist, dass es noch da ist, weil du die Zelte nicht vollkommen abbrichst, oder ein schlechtes, weil du keinerlei Gedanken an dein Leben hier verschwendest.
Nun habe ich mich zumindest von dieser irrsinnigen Angst befreit. Das Rad ist jetzt im Keller, so weiß ich wenigstens, wo es ist, und nun ist zumindest der Weg zur Mülltonne wieder ein tretminenfreier.
I ch hasse dieses Ziehen. Meine Haut brennt, und in mir fühlt es sich an, als wenn winzige, nicht besonders starke Zwerge kleine Seile an meine Eingeweide gebunden hätten und sie in alle vier Himmelsrichtungen ziehen, um mich nach klassischer Foltermethode zu vierteilen.
Der Sommer vergeht und hinterlässt mir nur Mist. Als wenn er die guten Sachen heimlich in sein Handgepäck geschummelt hätte und damit auf dem Weg Richtung Süden wäre. Ich werde irgendwie weniger. Weniger nett, weniger geduldig, weniger glücklich, weniger alles.
Flo geht mir furchtbar auf die eh schon fiebrigen Nerven. Obwohl unser Zusammenleben auf den ersten Blick einwandfrei funktioniert, scheitern wir irgendwie an Natürlichkeit.
Weil ich manchmal gern alleine zu Hause und nicht mit den anderen Mädchen im Atelier nähe, bin ich fast immer schon in der Wohnung, wenn Flo aus der Kletterhalle kommt.
Natürlich haben wir alle »Schatz, ich bin zu Hause!«-Witze schon gemacht, erweitert (er: Blumen und Hut, ich Schürze und Nudelholz) und vollkommen überstrapaziert. Und das Nach-Hause-Kommen (egal in welcher Reihenfolge) ist etwas, das ich immer noch sehr genieße. Was wir einfach nicht so richtig gut beherrschen, ist das Zu-Hause
-Sein
. Meine Wunschvorstellung war immer, dass man in einer gemeinsamen Wohnung wie in einer WG lebt. Eine gute WG : Jeder hat seinen Rückzugsort, aber auch gemeinsam zu nutzende Orte. Jeder macht, wonach ihm grade ist, wenn sich die Bedürfnisse kreuzen: super, wenn nicht: total fein. Ich dachte, dass eine gemeinsame Wohnung dieses Verhalten ganz automatisch mit sich bringen würde. Permanente
Wir
-Zeit müsste doch alle Beteiligten irremachen. Aber Flo scheint überhaupt keine
Ich
-Zeit zu benötigen, und so ist automatisch immer
Wir
-Zeit, wenn wir beide gleichzeitig in der Wohnung sind. Was wir ja eigentlich jeden Abend und, wenn wir nicht aufpassen, jedes Wochenende sind.
Ich kann gar nicht so recht den Finger auf das Problem legen, außer dass wir mir einfach zu viel
Wir
sind. Sobald Flo da ist, setzt er sich zu mir an den Küchentisch oder aufs Sofa oder aufs Bett und ist da. Bleibt da. Kuschelt. Oder spricht. Und geht nicht mehr weg. Was immer ich im Fernsehen sehe, sieht er mit, und wenn ich lese, liest er auch, und wenn wir nicht diese Hygieneregel hätten, dann würden wir vermutlich zusammen kacken. Es ist, als ob man jeden Abend der Woche mit derselben Person verabredet ist. Und ja, es ist die Person, die ich liebe, aber ich kann Flo inzwischen gar nicht mehr vernünftig von außen bewundern, weil er immer direkt neben mir steht.
»Du hast ein Problem mit Nähe!«, Freud-simpelt Jana am Telefon.
»Ach Quatsch! Ich hab kein Problem mit Nähe, aber ich bin es auch nicht gewöhnt, andauernd
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