Wachstumsschmerz
gefliesten Bad zu holen. Als ich wieder zurück ins Zimmer komme, hat Flo das Fenster geöffnet und raucht.
»Was mache ich mit dem Rest?«, frage ich ihn.
»Welcher Rest?«
»Na, der ganze andere Scheiß, der mich so unglücklich macht.«
»Ich weiß nicht.«
Natürlich nicht.
»Ich meine, kannst du nicht einfach ein bisschen runterkommen?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich meinen Freund an.
»Sorry, so meinte ich es nicht. Ich meinte nur, dass ich das Gefühl habe, dass sich in dir zurzeit alles Mögliche verknotet und aufbauscht. Dinge, die vielleicht gar nichts miteinander zu tun haben, befruchten sich irgendwie gegenseitig und machen dich unglücklicher als nötig. Ist zumindest mein Eindruck.«
»Also sortieren?«
»Sortieren!«
»Sortieren it is«, sage ich und lasse mich erschöpft aufs Bett fallen, während durch das geöffnete Fenster leise doch noch Whitney Houston aus der Partyscheune zu uns rüberweht.
W elche Alternativen habe ich denn?
Ich meine echte Möglichkeiten, nicht die, die da draußen feixend in ihren gutsitzenden, schmalen Hosen und glänzenden Fracks rumstehen und Fernsehshows und schnelle Wagen und Jacuzzis versprechen. Nicht die, die ständig Warhol und seine verdammten fünfzehn Minuten Ruhm zitieren. Und überhaupt, was soll das immer mit Warhol? Ich wette, für diesen Satz hat er sich selbst irgendwann in den knochigen Hintern beißen wollen. Warhol, der, was nur wenige wissen, nämlich auch mal gesagt hat, dass er sich viel lieber abends zu Hause die Augenbrauen bleicht, anstatt auszugehen. Der im Übrigen fand, dass schon das pure Am-Leben-Sein irrsinnig viel Arbeit sei, eine Arbeit, die so anstrengend ist, dass man nicht immer gern bereit ist, sie zu leisten. Wieso wird das nie zitiert? Immer nur diese verfickten fünfzehn Minuten Ruhm. Und nun stehen sie da rum und blicken vorwurfsvoll in die Gegend: die Möglichkeiten! Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst. Du musst nicht studiert haben, um super erfolgreich zu sein. Wenn der deutsche BWL er Marcel auf Mallorca der erfolgreichste Jungmakler der Insel werden kann, wenn dessen Kamin Fotos von ihm und Elton John zieren, weshalb tut sich das feine Frollein so dermaßen schwer? Hat sie nicht begriffen, dass alles in ihren eigenen Händen liegt?
Aber was genau liegt in meinen Händen? Welche Wege sind realistisch, begehbar? Natürlich könnte ich einfach mal meinen Stundenlohn erhöhen. Eine durchschnittliche Schneiderin verdient zwanzig Euro die Stunde. Ich nehme knapp über zehn. Die wenige Kundschaft, die ich habe, kann und wird allerdings nicht mehr ausgeben für Kleidung, die sie nun einmal braucht. Menschen, die »brauchen« statt »wollen«, sind aber generell die viel sympathischeren Kunden. Die Alternative: die Rolf Edens und Makler-Marcels dieser Welt. Die brauchen tendenziell natürlich eher keine neuen Anzüge, haben aber Bock drauf. Und Geld. Davon abgesehen, dass ich für ein neues Kundengenre erst einmal den Stadtbezirk wechseln müsste, weil jemand wie Eden vermutlich eher nicht nach Pankow kommen würde, um sich ausmessen zu lassen, sondern lieber in Charlottenburg bleibt, damit er danach noch schnell zum Udo Walz gehen kann, um über Veronica Ferres Talent zu sprechen. So stelle ich mir das zumindest vor. Und würde
ich
denn mit Rolf oder Udo über Veronicas Talent sprechen wollen? Der zarte zwischenmenschliche Aspekt meiner Arbeit ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Es gibt nun mal häufig Momente, in denen gesprochen werden muss, allein um über die Intimität hinwegzutäuschen, dass man grad in Unterwäsche ausgemessen wird. Dass Problemzonen sichtbar werden und über fehlende Perfektion gesprochen werden muss, damit sie eben durch mich ausgeglichen werden kann. Worüber würde ich also mit Rolf reden? Oder mit Udo? Oder mit Veronica oder irgendeinem reichen Banker-/Fernseh-/Musik-/Maklerarsch? Müsste ich mich nicht plötzlich mit Themen auseinandersetzen, die mich bestenfalls nicht interessieren, die ich schlimmstenfalls sogar verachte, um meiner Kundschaft gerecht zu werden? Plötzlich Aktienkurse und Kaltquadratmeterpreise wissen?
Und auf der anderen, nicht viel attraktiveren Seite stehen die gutgekleideten jungen Menschen. Fashion-Week-People. Menschlich gesehen eine deutlich angenehmere Kundschaft, wirtschaftlich gesehen leider für die Tonne. Modebewusste Menschen lassen sich nichts schneidern. Ihre modische Aufmerksamkeitsspanne ist viel zu kurz, um sich für
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