Wachstumsschmerz
zusammenreißen, um Flo das nicht spüren zu lassen.
Nachdem Theas Vater fertig ist, küsst er seine rotwangige Tochter linkisch und umarmt Arne. Ebenfalls rührend ungelenk. Dann gibt er dem DJ ein Zeichen, damit dieser die Musik für den Tanz des Brautpaares abspielen kann. Und obwohl ich hier wegmuss, raus sollte, durchatmen und mich abkühlen, bleibe ich in meiner heißen Blase sitzen und glotze wie ein Fisch auf die sich einander fast verlegen anlächelnden Verheirateten, die zu den ersten Takten des vielleicht schönstmöglichen Hochzeitsliedes der Welt schüchtern und mit steifen Beinchen anfangen zu tanzen. Im Publikum erklingt leise enttäuschtes Gemurmel. Vielleicht ist man auch nur etwas überrascht. Vermutlich hatte man auf eine größere musikalische Geste gehofft. Eine Geste, so groß wie Whitney Houston in etwa oder wie Mariah Carey vielleicht. Seinen Hochzeitswalzer zu »I Want to Hold Your Hand« von den Beatles zu tanzen ist gewagt, ohne Frage, aber kann denn niemand sehen, dass es vermutlich keinen besseren Song für ein Fest des Zugeständnisses geben kann? Kein Song, der besser ein
Wir
zelebriert? »I Want to Hold Your Hand«, was in der deutschen Version des Songs ja falsch und unangebracht fordernd mit »Komm gib mir deine Hand« übersetzt wurde, ist eine so zarte Geste der Demut und Liebe, dass es mir den Atem nimmt. Scheinbar minutenlang. Und als ich plötzlich wieder einatme, mit einem in meinen Ohren unfassbar lauten, rasselnden Ton, reißt es mich von meinem Königsstuhl. Durch diese unverhoffte Heftigkeit fast den Tisch neben mir umwerfend, stolpere ich aus der Scheune, weg von so viel Liebe, die nicht meine ist und nicht mir gilt.
Keuchend erreiche ich das verlassene Rauchervordach, fummle eine Zigarette aus meinem winzigen Secondhand-Mädchenhandtäschchen und merke erst beim Versuch, sie anzuzünden, dass ich schluchze. Unverhältnismäßig heftig, fast hysterisch.
»And when I touch you I feel happy inside«
Es regnet viel stärker als vorhin, ein bockiger, kalter Septemberregen, vor dem das schmale Scheunendach keinen ausreichenden Schutz mehr bieten kann.
»It’s such a feeling that my love I can’t hide«
Also trete ich einen Schritt nach vorn und lasse mir eisiges Herbstwasser auf den glühenden Körper regnen.
»I can’t hide, I can’t hide«
T rotz der zusammengeschobenen Betten könnten wir auseinandergeschobener nicht sein. Der hölzerne Rahmen der Einzelbetten verursacht nicht nur eine klaffende Besucherritze, er steht auch ein paar Zentimeter höher als die Matratzen und bildet somit eine kleine harte Mauer zwischen uns. Vollkommen überflüssig, denn eine kleine harte Mauer haben wir uns in den letzten Stunden artig selbst erarbeitet. Oder ich. Was weiß ich.
Flo kam irgendwann raus in den Regen und fragte, was eigentlich los sei.
Und ich stand da, nass von Regen- und Tränenwasser, und konnte nur mit den Schultern zucken und weiterweinen.
Flos eingeschüchterte Versuche, mich zu trösten, bewirkten nur das Gegenteil. Jede seiner vorsichtigen Gesten machte mich gereizter und unglücklicher. Bis er jegliche Form von Trost einfach aufgab und nur noch in sich zusammengefallen neben mir stand. Wie ein fehlbesetzter Bodyguard. In der Scheune begannen Arnes und Theas Freunde »Can’t Take My Eyes Off of You« für die beiden zu singen, und als auch dieser Akt mir schmerzhaft das Herz verdrehte, drehte ich mich einfach um und verließ die Hochzeit.
Seit zwanzig Minuten liegen wir nun auf unseren Rücken, jeder so sehr für sich, dass es sich anfühlt, als bewohnten wir zwei Einzelzimmer. Getrennt durch hölzerne Miniwände und riesige Gedankenwände. Flo sagt gar nichts mehr. Seit er wenige Minuten nach mir unser Zimmer erreicht hat, verhält er sich still. Nicht abwartend, nur still. Ich glaube, dass er eigentlich gar nicht reden will. Nicht wirklich wissen möchte, weshalb ich plötzlich so durchgedreht bin. Zu groß ist seine Angst vor der Antwort, vor einer sich möglicherweise anschließenden Diskussion. Und obwohl ich ihm eine Erklärung schulde und eine Umarmung und beruhigende Worte, bürstet Flos verängstigte Unterwürfigkeit jede Faser in mir auf Krawall.
Ich streiche wie zur Beruhigung über meinen Oberkörper. Obwohl sie ihren großen Auftritt heute schon hatte, brennt meine Haut noch nach.
»Wieder Haut?«, fragt Flo, sieht mich aber nicht richtig an.
»Ich bin unglücklich«, platzt es aus mir heraus.
»Mit allem, auch mit uns«, schiebe ich
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