Wackelkontakte - Kein Sex geht gar nicht
kalt geworden war. Ich fuhr mit dem Bus zu Tinas Wohnung, aber sie war noch nicht zu Hause. Ihr Geschäft lag nur drei Straßen entfernt, und ich ging zu Fuß weiter. Schon von weitem sah ich, dass ihr Laden noch erleuchtet war. Ich verlangsamte automatisch meinen Schritt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich Tina Özlems und meinen Beschluss beibringen sollte. Es war schon schwierig genug, eine normale Braut davon zu überzeugen, ihre Hochzeit abzublasen, Gäste auszuladen, den Partyservice abzubestellen. Bei Tina war es im Prinzip unmöglich.
Ich kam näher und sah, dass Tina hinter der Kasse stand und ihre Abrechnung machte. Sie hatte mich noch nicht bemerkt, und die Tür war bereits verschlossen. Ich wollte gerade klopfen, als Aygün aus dem Hinterzimmer auftauchte und seine Arme von hinten um Tinas Bauch schlang. Erschrocken sprang ich zur Seite, beobachtete sie aber unauffällig durch die Regale hindurch. Aygün küsste Tina im Nacken und am Ohr und hörte nicht auf, sie mit seinen Küssen von der Arbeit abzuhalten, bis Tina anfing zu lachen, die Geldscheine zur Seite legte und sich zu ihm umdrehte. Sie küssten sich lange, und ich schaute diskret zur Seite. Ich überlegte, ob der Moment gerade etwas ungünstig war, um Tina von ihrer Hochzeit abzubringen. Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, ging das Licht im Laden aus, und die Tür wurde von innen aufgeschlossen. Ich versteckte mich im nächsten Hauseingang und hörte, wie Tina die Tür von außen wieder abschloss und das Gitter davor zuzog.
»Hier, Aygün, das ist der Schlüssel für das Tor, und der hier ist für die Tür. Du musst morgen den Laden aufschließen, ich hole nämlich das Hochzeitskleid ab.«
»Hockseitskleid? Ohh, ich nicht mitkommen?«
Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, wie schnell Aygün Deutsch gelernt hatte, denn Tina und er kamen direkt auf mich zu. Tinas Wagen parkte genau vor mir auf der Straße. Ich ging noch einen Schritt weiter in den Hauseingang hinein und zog mir die Kapuze über den Kopf.
»Nein, du kannst nicht mitkommen. In Deutschland gibt es den Brauch, dass der Bräutigam, also der Mann, das Kleid der Frau, also der Braut, vor der Hochzeit nicht sehen darf.« Tina sprach betont langsam, aber Aygün schien sie schon sehr gut zu verstehen.
»Und in Türkei war Brauch, ganze Frau vor Hochzeit nicht sehen.«
Tina lachte und blieb nur einen Meter von mir entfernt stehen, um Aygün erneut einen dicken Kuss auf den Mund zu drücken.
»Echt? Das wäre aber sehr schade gewesen.«
»Schade?«
»Traurig, also nicht schön.«
»Ja, viel schade!«
Sie küssten sich schon wieder ausgiebig, und ich wusste langsam nicht mehr, wie lange ich noch die Klingelschilder lesen konnte, ohne wie eine Legasthenikerin zu wirken. Endlich unterbrach Tina die Knutscherei: »Lass uns lieber gehen, Schatz, hier treibt sich so ein komischer Typ rum.«
»Typ?«
»Ja, Penner, Bettler.«
»Penner?«
Tina schloss ihr Auto auf, während sie Aygün erklärte, wie man Leute wie mich in der deutschen Umgangssprache nannte. »Obdachlose, Leute ohne Zuhause … « Endlich stiegen sie ein und fuhren davon. Ich schaute ihrem Wagen lange hinterher. Dann bettelte ich ein paar Jugendliche um zwanzig Cent an, lief zur nächsten Telefonzelle, weil ich weder Handy noch Geld dabei hatte, und wählte Özlems Nummer.
»Özlem? Hör zu, ich habe einen Riesenfehler gemacht. Du musst Matthias heiraten, und Tina heiratet Aygün. Hast du mich verstanden? Ihr müsst heiraten!«
Telefonzellen kamen mir im Handyzeitalter so altmodisch vor, dass ich Angst hatte, die Nachricht käme nicht richtig durch die Leitung.
Özlem war plötzlich ganz aufgeregt: »Was? Was hat Tina gesagt?«
»Gar nichts. Also, ich habe nichts gesagt und sie auch nicht, aber das ist gar nicht wichtig.«
»Wieso?«
Das Display begann bereits zu blinken.
»Weil … «
Biep. Das Geld war durchgerutscht, die Verbindung unterbrochen.
» … sie ihn liebt.«
ABSEITS
Passives Abseits. Tim hatte ewig gebraucht, um mir diese Feinheit der Abseitsregel mit seinen Kühlschrankmagneten zu verdeutlichen. Aber auch wenn ich es in der Theorie schließlich verstanden hatte, war mir die praktische Seite immer noch ein Rätsel. Bis jetzt. Bis mir klar wurde, dass ich mich die meiste Zeit im passiven Abseits aufhielt. Es war sozusagen meine Standardposition. Das Spiel lief irgendwie an mir vorbei, und sobald ich ins Spielgeschehen eingriff, wurde abgepfiffen.
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