Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
untergeordnete Gottheit, eine Halbgöttin. Und als solche verfügte sie nur über sehr begrenzte Fähigkeiten. Die Seelenwächter mussten mit einem armseligen Waffenarsenal auskommen – nicht, weil die Herrin des Todes ihnen nicht mehr gönnte, sondern weil das alles war, das sie ihnen geben konnte. Das Buch war faszinierend. Sobald Lachlan die erste zerknitterte Seite umgeblättert hatte, war er wie gebannt.
Er warf einen Blick auf seine Uhr – und runzelte die Stirn. Die silbernen Zeiger auf dem schwarzen Ziffernblatt wollten ihm weismachen, dass es fast halb drei am Morgen war, aber das konnte nicht stimmen. Es würde bedeuten, dass Lachlan für zwölf Stunden in das Buch vertieft gewesen war. Höchst unwahrscheinlich. »Stefan!«, rief er.
Es dauerte einen Augenblick, bis der Magier seinen Kopf durch den purpurnen Vorhang steckte. Er kaute an einem knusprigen Stück Brot. »Was ist?«
Eine verlockende Duftfahne nach Spaghetti wehte in den Raum, und Lachlans Magen begann zu knurren. »Wie viel Uhr ist es?«
»Halb acht.«
»Verdammt noch mal.« Weniger unangenehm als zwölf verlorene Stunden, aber noch immer erschreckend. »Meine Uhr ist stehen geblieben.«
»Oh«, sagte Stefan und rümpfte die Nase. »Habe ich das nicht erwähnt? Hier drin funktioniert keines dieser modernen Geräte.«
»Und wo ist ›hier drin‹ genau?«
Der Magier richtete sich auf und ließ einen stolzen, fast väterlichen Blick durch den Raum schweifen. »Schloss Rakimczyk, Ungarn, fünfzehntes Jahrhundert.«
»Ein Schloss … im fünfzehnten Jahrhundert?«
Stefan strahlte. »Ja.«
»Imposant. Ein Familienerbe?«
»Ich schätze, so kann man es nennen.«
Lachlan sah zu dem dunklen Gewölbe zur Linken, von dem aus eine Steintreppe nach oben führte. »Kann jemand aus dieser Zeit dort herunterkommen?« Er zeigte auf die Treppe.
»Nicht, ohne eine ganze Weile lang graben zu müssen. Das Schloss über uns ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Die Bevölkerung war wohl nicht gerade zufrieden mit meinen Ahnen. Sie gab ihnen die Schuld für jede Kuh, die aus unerfindlichen Gründen starb, jede magere Ernte und jede Eiterbeule.«
»Warum dieser Ort? Hast du keinen schöneren gefunden?«
»Die Bücher sind an diesen Raum und diese Zeit gebunden. Man kann sie nicht fortschaffen. Wenn ich sie studieren will, muss ich sie hier studieren.«
»Verzwickt.«
»Das ist noch gelinde ausgedrückt. Immerhin sind sie auf diese Weise sicher verwahrt.«
Lachlans Nasenlöcher blähten sich, als erneut der Duft nach Tomaten und Oregano hereinwehte. »Aber Essen kann problemlos die Schwelle passieren?«, fragte er, während er beobachtete, wie das letzte Stückchen Brot in Stefans Mund verschwand.
»Ja. Auch Kleidung, wie du siehst. Es scheint vorwiegend die Elektronik zu beeinträchtigen.« In Stefans Blick blitzte es belustigt auf. »Hast du Hunger?«
»Und ob«, erwiderte Lachlan.
»Dann komm doch zu uns herüber. Dika hat genug Pasta gekocht, um eine ganze Armee zu verköstigen. Sie wird sich freuen, wenn du einen Teller mit uns isst.«
Obwohl die Gelegenheit, Stefans geheimnisumwittertes Leben näher zu erforschen, Lachlan reizte, hatte er bereits mehr Zeit hier verbracht, als er sollte. Zum ersten Mal seit über einer Woche war er Emily nach der Schule nicht nach Hause gefolgt. Er nahm zwar an, dass sich Drusus nach der Attacke letzte Nacht ruhig verhalten würde, doch sein Versäumnis nagte an ihm. »Danke für die Einladung, aber ich sollte besser heimfahren.«
»Selbst schuld. Dika kocht die besten Spaghetti außerhalb Italiens.« Stefan zuckte die Achseln und zog sich hinter den Vorhang zurück.
Lachlan schob eine trockene Schreibfeder zwischen die Seiten und warf einen Blick auf die Überschrift des nächsten Kapitels: Die Dreifaltige Seele. Den ersten Zeilen nach zu urteilen handelte es von dem alten Mythos über eine von Gott gerufene, außergewöhnliche Seele, die in den Zeiten eines finsteren Kampfes zwischen den kosmischen Kräften geboren werden würde, um die Welt zu retten. Ein Märchen. Lachlan wollte gerade zum nächsten Kapitel blättern, da streifte sein Blick eine Zeichnung unten auf der Seite, und sein Herzschlag setzte für einen Sekundenbruchteil aus. Es war eher ein Piktogramm – drei gleich große Punkte, zwei nebeneinander und einer in der Mitte darunter –, ein Motiv, das einem häufig und an den unterschiedlichsten Orten begegnete. Und doch sträubten sich die Haare in Lachlans Nacken. Erst an diesem
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