Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
ich ihm eher als Ihnen.«
»Na ja, vielleicht ist Ihr Vertrauen in diesen Priester nicht ganz gerechtfertigt, denn
ich
sage Ihnen, dass ich ihn nie überfallen habe, ihn und auch sonst niemanden. Meine Freunde und ich sehen mit unseren Lederjacken und Motorrädern vermutlich so aus – und sicher, wir trinken Bier und rauchen ab und zu Gras –, aber wir sind keine Kriminellen. Sie sollten aufhören, Menschen allein nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Sind Sie sicher, dass dieser Pater MacGregor die Wahrheit sagt?«
Drews Vorstellung war gut. Sehr, sehr gut. Obwohl Rachel merkte, dass Drew versuchte, die vielen offenen Fragen und Umgereimtheiten um Lachlan bewusst zu seinem Vorteil zu nutzen, geriet sie ins Wanken – nur ein wenig, aber das reichte aus. War sie sicher? War sie wirklich überzeugt, dass Lachlan ihr die Wahrheit über den Überfall erzählt hatte? Nein, sie konnte nicht sicher sein. Nicht, was Lachlan betraf, aber in Bezug auf Drew schon. Vielleicht war es die angeborene Fähigkeit einer Mutter, eine drohende Gefahr für ihr Kind zu spüren, jedenfalls hatte sie keinerlei Zweifel daran, dass man diesem jungen Mann nicht trauen konnte – gleichgültig, wie überzeugend seine Worte waren. »Ich bin mir sehr sicher«, entgegnete sie. Sie riss ihm die Papiertüten aus der Hand und fügte schnell hinzu: »Em, nimm die Tüte. Wir gehen jetzt. Heute Abend hörst du dir Pater MacGregors Version dieser Geschichte an. Danach kannst du selbst entscheiden, wer die Wahrheit sagt.«
Em zögerte.
»Mach das ruhig, Em«, sagte Drew ruhig. »Rede mit diesem Kerl. Es kann schließlich nicht schaden. Denk einfach nur daran, dass ich dich liebe. Ich würde dir nie weh tun. Oder jemand anderem.«
Das Brennen in Rachels Brust ließ nach – ein wenig. Drew trat den Rückzug an, doch es schien ihm überhaupt keine Sorgen zu bereiten, dass Em mit Lachlan sprechen würde. Vielmehr ermutigte er sie sogar dazu. Warum sollte er das tun, wenn er doch wusste, dass die Unterredung mit Lachlan ihn als Lügner entlarvte?
Die Feindseligkeit gegenüber ihrer Mutter war noch nicht ganz aus Ems Gesicht gewichen, aber sie raffte die auf dem Boden verstreuten Einkäufe zusammen und richtete sich mit der mittlerweile durchnässten Tüte im Arm wieder auf. Die Sicherheit des Gebäudes unmittelbar vor Augen, lief Rachel die Treppen zur Glastür empor, zog eine davon auf und machte einen Schritt beiseite, um Em vorzulassen. Ihre Tochter trat in die kühle, blau gehaltene Lobby, und Rachels Herz schlug sofort ein wenig langsamer. Aber es beruhigte sich nicht völlig. Diese Flucht war fast zu einfach, als wären sie zwei Mäuse, die sich verzweifelt in ein Loch verkrochen, unfähig zu begreifen, dass die Katze sie auch dort erreichen konnte.
Bevor Rachel Em hineinfolgte, sah sie ein letztes Mal zu Drew. Er stand noch genau dort, wo sie ihn verlassen hatten, und beobachtete sie. Als sich ihre Blicke trafen, verzog er den Mund zu einem breiten, lässigen Lächeln – anscheinend nahm alles genau den Gang, den er geplant hatte. Dann drehte sich Drew auf dem Absatz seiner schwarzen Stiefel um und ging.
Lachlan setzte sich aufrecht auf den harten Holzstuhl. Indem er die Schultern rollte, versuchte er, die Anspannung in seinem Nacken zu vertreiben. Trotz der großen Anzahl Kerzen, deren Wachs auf den Steinboden tropfte, war das Licht im Raum äußerst schummrig. Wie freudig hatte sich Lachlan von der modernen Technik verführen lassen! Er konnte kaum glauben, dass er dieses flackernde Zwielicht früher als selbstverständlich hingenommen hatte. Wenn man außerdem bedachte, dass die mittelalterliche Gallustinte im Laufe der Zeit verblichen war und er endlose Pergamente zu studieren hatte, war es kein Wunder, dass seine Augen protestierten und nach einer kleinen Pause verlangten. Aber er durfte sich keine Ruhe gönnen. Es gab zu viel zu lernen. Lachlan hatte noch keines der beiden Zauberbücher aufgeschlagen, die am Rande des Tisches lagen, doch bereits der Foliant mit den alten Überlieferungen, den er gerade durchsah, hatte seine Welt auf den Kopf gestellt.
Die Götter waren nicht das, wofür er sie gehalten hatte. Wenn man die Herrin des Todes reden hörte, mochte man meinen, dass sie außerordentliche und schier unendliche Kräfte besaß. In Wahrheit aber war sie schwach. Während Gott und Satan vollkommene kosmische Wesen waren, ausgestattet mit einer umfassenden Machtfülle, war Ihre Majestät der Tod nicht mehr als eine
Weitere Kostenlose Bücher