Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
Springerstiefel. Ein sehr unpraktischer Mantel bei der derzeitigen Hitze, der aber verdammt gut aussah. Fast hätte Em geseufzt, als Carlos zum Schutz gegen die Sonne die Kapuze des Sweatshirts über sein schulterlanges braunes Haar zog.
Em sah, wie ihr mehrere Mädchen aus der Klasse neidische Blicke zuwarfen. Selbst Daria, die sich in der Sportstunde über Ems behaarte Arme lustig gemacht und sie einen Troll genannt hatte. »Was hörst du denn da?«, fragte Em und wies mit dem Kinn auf Carlos’ Ohrstöpsel.
»Sisters of Mercy.«
Sie nickte, seltsam enttäuscht. Es war eine tolle Band, wenn auch ein wenig durchschnittlich. Aber immerhin war Em selbst eingefleischter Lycia-Fan, und die machten schließlich auch Mainstream-Musik. Nur weil sein Geschmack nicht derart ausgefallen war wie der von Drew, musste das nicht heißen, dass er ein Langweiler war. Und so wie Carlos ließ Drew ihren Puls nie tanzen.
Sie erreichten den Gehsteig in einträchtigem Schweigen. Em dachte bereits daran, wie es wäre, neben Carlos im Bus zu sitzen – ihn gelegentlich zu berühren und an ihn gedrückt zu werden, sobald der Bus eine Kurve nahm –, da hörte sie das hektische, schrille Tuten einer Hupe.
»Em!«
Sie riss den Kopf zum Parkplatz herum … und eine Mischung aus blankem Entsetzen und Überraschung befiel sie. Ihre Mom. In dieser blamablen Rostlaube, die sie ein Auto nannte.
»Em!« Ihre Mom winkte zum Fenster heraus. »Komm, ich fahre dich heim.«
»Ist das deine Mutter?«
Em dachte kurz daran, nein zu sagen, besann sich dann aber eines Besseren. Sie sah Carlos mit einem Blick an, der hoffentlich ausdrückte: Sind Mütter nicht grässlich? Dann murmelte sie: »Ja.«
In seinen Augen flackerte etwas auf, etwas, das einer Irritation schrecklich nahe kam. »Dann fährst du wohl doch nicht mit dem Bus.«
Ems Laune sank in den Keller. »Vielleicht können wir –«
»Bis morgen dann.«
In wachsender Benommenheit nickte Em. Sie sah Carlos nach, wie er mit flatterndem schwarzen Trenchcoat zum Bus hinüberstolzierte. Carlos’ erster Tag in der Schule, der Tag, an dem er aktiv Anschluss suchte, und er stieg ohne sie in den Bus. Ein anderes Mädchen würde nun neben dem gutaussehenden Neuen sitzen, vielleicht sogar Daria. Auf jeden Fall nicht sie – und das nur, weil ihre Mom zum ersten Mal beschlossen hatte, sie von der Schule abzuholen.
Ein weiterer Beweis dafür, dass das Leben einfach zum Kotzen war.
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11
N ach einem heftigen Streit über die Reise mit der Band und einem Supermarkteinkauf in eisigem Schweigen war sich Rachel ziemlich sicher, dass es zwischen ihr und Em nicht mehr schlimmer werden konnte. Doch damit lag sie falsch. Als sie und ihre sehr schlecht gelaunte Tochter sich den Glastüren des Apartmentgebäudes näherten, erhob sich ein junger Mann in Lederkluft, um sie zu begrüßen. Drew lächelte breit.
»Ich werde Ihnen helfen, Rachel.« Er streckte die Hand nach zwei Papiertüten aus und nahm sie Rachel aus den kraftlosen Armen. Ohne Anstrengung hievte er die Last hoch, beugte sich vor und küsste Em auf den Mund. »Hallo, Süße.«
Ein Zittern durchlief Rachel und lähmte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Dieses … dieses Monster hatte Lachlan in der Nacht zuvor fast umgebracht, und trotzdem kam er her und tat so, als wäre nichts geschehen. Als wäre er ein ganz normaler junger Mann.
Drews Blick begegnete ihrem. In sein Lächeln mischte sich ein Hauch halsstarriger Arroganz. »Ich habe vor, Em heute Nachmittag zu einem kurzen Ausflug mit dem Motorrad mitzunehmen, Rachel. Aber ich weiß, dass Sie nicht viel von Motorrädern halten, daher dachte ich, ich frage Sie erst um Erlaubnis.«
»Nein, das kommt gar nicht in Frage.« Rachels Antwort war ausgesprochen, noch bevor sie lange darüber nachdenken konnte. Und sie trug ihr einen düsteren Blick von Em ein.
»Ich bin ein sehr sicherer Fahrer, und wir werden nur für eine halbe Stunde fort sein. Ich verspreche, dass ich gut auf Ihre Tochter aufpassen werde.«
Als Rachel Drews amüsiertem Blick begegnete, bekam ihre Panik neue Nahrung: Er wusste genau, welche Wirkung er auf sie hatte. Jedes nervöse Flattern in ihrem Magen, jedes erschreckte Aussetzen des Herzschlags, jeder erstickte Atemzug – er wusste davon. Und es belustigte ihn. Lachlans Warnung dröhnte in Rachels Kopf: Du darfst nicht mit ihm reden und ihm auch nicht zuhören, selbst wenn es um Emily geht. Doch in dieser Situation konnte Rachel Drew nicht einfach ignorieren. Sie
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