Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
hast eine rasche Auffassungsgabe. In der vergangenen Zeit hast du bereits sehr viel gelernt. Wenn ich einmal im Kampf fallen sollte, erwarte ich von dir, dass du dich um die anderen kümmerst.«
»Verdammt noch mal, red nicht solchen Müll.«
»Ich habe nicht vor, mich töten zu lassen. Aber du solltest auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Auch wenn mein Ende unerwartet kommt, versprich mir, dass du dir einen anderen erfahrenen Schwertkämpfer suchst und das Training fortführst.«
»MacGregor, halt den Rand. Ich bespreche doch nicht mit dir, was ich zu erledigen habe, wenn du den Löffel abgibst.«
»Ein vorausschauender Kämpfer durchdenkt alle Möglichkeiten.«
»Ich halte das einfach nur für bescheuert. Wie wär’s, wenn wir stattdessen alle Möglichkeiten durchdenken, wie wir diesen verdammten Verlockungsdämon aus dem Verkehr ziehen?«
Lachlan lächelte. »Auch daran sollte ein vorausschauender Kämpfer denken.«
»Eins zu null für mich. Bedeutet das, dass wir uns endlich über ein Mittagessen bei Consuelo unterhalten können? Ich sterbe vor Hunger.«
»Mein Gott, Webster, müssen denn all unsere Gespräche immer bei dir und deinen oberflächlichen Bedürfnissen enden?«
Brian zupfte die Manschetten seines hellblauen Hemdes unter dem Armani-Sakko zurecht, während er die Rampe zur Straße hinaufging. »Ich denke schon. Hast du ein Problem damit?«
Em war so sehr mit düsteren Gedanken über die Hänseleien der anderen Schüler beschäftigt gewesen, dass sie den ganzen Tag lang kaum Notiz von Carlos genommen hatte. Erst eine spitze Bemerkung von Sheryl nach Schulschluss rüttelte sie auf.
»Er steht total auf dich.«
»Wer?«
»Der Neue.«
Em hob den Blick von ihren Schnürsenkeln und sah sich suchend auf dem Schulhof um. Alle anderen beeilten sich, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, entweder gingen sie raschen Schrittes zu Fuß oder stellten sich drängelnd vor den Bussen an. Doch Carlos lehnte, die Hände lässig in den Taschen seines langen schwarzen Mantels vergraben und mit Kopfhörern im Ohr, an einer Backsteinmauer und ließ Em nicht aus den Augen. Aus seinen zutiefst gefühlvollen Augen. Em machte ein gleichgültiges Gesicht, band ihre Stiefel zu und richtete sich wieder auf. »Er ist ganz okay.«
»Nein«, entgegnete Sheryl begeistert. »Er ist absolut süß.«
»Übrigens fährt er bei mir im Bus mit.«
»Das gibt’s nicht!«
»Das gibt’s wohl.«
Sheryl sah sie nachdenklich an. »Und was ist mit Drew?«
Em blinzelte. Eine Sekunde lang hatte sie Drew völlig vergessen. »Keine Sorge. Ich halte nicht nach einem neuen Freund Ausschau. Ich genieße nur die Aufmerksamkeit.«
»Oh, da kommt er.« Lächelnd und mit einem Anflug von Eifersucht verlagerte Sheryl die schweren Bücher in ihrem Arm. »Schick mir nachher eine SMS und bring mich auf den neuesten Stand.«
»Mach ich.«
Carlos schlenderte mit geschmeidigen, ruhigen Bewegungen heran, und Ems Herz begann zu flattern. Den Klamotten der meisten Jungen haftete ein Hauch ihres Körpergeruchs an, aber nicht bei Carlos. Er roch warm nach Zitrone.
»Fährst du heute mit dem Bus?«, fragte er.
»Ja.«
»Ich auch.«
Gemeinsam und ohne ein weiteres Wort stellten sie sich vor dem Bus an und stiegen kurze Zeit später ein. Alle Bänke waren belegt, nur noch Einzelsitze waren frei. Em war enttäuscht. Aber zu ihrer großen Überraschung ergriff Carlos kommentarlos ihre Hand, blieb neben einer Bank stehen, auf der ein Junge allein saß, und hielt ihrer beider Hände gut sichtbar hoch. »Macht’s dir was aus?«
Der Junge schüttelte den Kopf und huschte auf einen anderen Platz. Em war nicht ganz sicher, ob dies das Ergebnis von Carlos’ natürlicher, einschüchternder Art oder nur der Höflichkeit des Jungen geschuldet war. Offen gestanden machte sie sich darüber nicht allzu viele Gedanken. Sie ging völlig darin auf, Carlos’ schlanke, schweißfreie Hand um die ihre zu spüren, zu fühlen, wie ihre Schultern und Oberschenkel aneinanderstießen, als sie endlich saßen. Nun ja, vielleicht nicht völlig: Ein Teil von ihr aalte sich in der Gewissheit, dass die anderen Mädchen im Bus gesehen hatten, dass Carlos in aller Öffentlichkeit Ems Hand ergriff. Er hatte den hinterhältigen Biestern mit einer einzigen Handbewegung bewiesen, dass sie falsch lagen – Em war weder lesbisch noch ein Troll.
Die ganze Situation machte Em ganz benommen – so benommen, dass die Fahrt bis zu ihrer Haltestelle im Nu verging.
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