Wächter des Elfenhains (German Edition)
zusammenzuziehen wie das titanische Herz eines unbegreiflichen Lebewesens, dann barst er in einer gewaltigen, lautlosen Explosion aus Licht auseinander – und enthüllte das Wunder, das dahinter verborgen gewesen war.
Der Hain, die Bäume, alles war wie zuvor – bis auf die Myriaden leuchtender Stränge, die plötzlich um ihn herumflossen, Ströme aus Silber, die majestätisch aus der Tiefe des Waldes heranwogten und zu jeder Eiche und Tanne, zu jedem Strauch und Grashalm reichten. Einer von ihnen war sogar mit Maifell verbunden. Er schwang ganz natürlich im Takt ihrer leicht gesetzten Schritte.
Andion war so verblüfft, dass er das Bild um ein Haar wieder verloren hätte. Natürlich wusste er, was er hier vor sich sah. Es waren die Lebensstränge – jene ätherischen Nabelschnüre aus Licht, die jedes Wesen, das der Hain je hervorgebracht hatte, mit seinem Ursprung verbanden.
Das Herz des Waldes. Andion erschauerte. Er wagte kaum zu atmen, fürchtete, selbst die kleinste Bewegung könne das Wunder wieder zerstören, das sich so unerwartet vor ihm offenbart hatte. Nur am Rande bekam er mit, wie seine Schritte stockten, wie Maifell neben ihm ebenfalls stehen blieb und ihn fragend anschaute. Behutsam wandte er den Kopf, starrte in ehrfürchtigem Staunen auf den schimmernden Ozean, der ihn umgab.
Was, bei allen Bäumen, ging hier vor? Wieso sah er, was kein anderer Elf zu sehen vermochte? Er erinnerte sich noch gut, wie Ionosen ihm vor gar nicht so langer Zeit vom Herzen des Waldes und den Lebenssträngen erzählt hatte. Jeder wusste davon, natürlich, aber niemand besaß die Fähigkeit, diese Verbindung zur Quelle tatsächlich wahrzunehmen. Es war ein Mysterium, unergründlich und geheimnisvoll – bis heute.
Sein Herz schlug ihm mit einem Mal bis zum Hals. Für die Elfen mochte es ein Mysterium sein. Doch er war kein Elf – er war ein Bastard, ein Halbblut, gezeugt von einem Elfen und geboren von einer Menschenfrau.
Er spürte, wie er vor Aufregung zu zittern begann. War das die Antwort? War seine Herkunft der Schlüssel, nach dem er so lange vergeblich gesucht hatte? Und hatte Ogaire mit seinem mörderischen Angriff, der ihn so nah an den Rand des Todes herangeführt hatte, unabsichtlich dazu beigetragen, diesen Schlüssel überhaupt erst in sein Schloss zu stecken und die Tür zu Bereichen seiner Wahrnehmung aufzustoßen, die einem gewöhnlichen Elfen auf ewig verwehrt bleiben würden? Hatte Ionosen von alldem gewusst? Und hatte er nur deshalb geschwiegen, weil er noch nicht bereit gewesen war, mit einem derartigen Wissen umzugehen? Nie hätte er für möglich gehalten, dass die Unterschiede zwischen ihm und dem Rest seines Volkes so groß sein könnten!
Sein Herz wummerte noch schneller gegen seine Rippen, als ihm unvermittelt ein Gedanke kam. Er war anders als Maifell und die anderen. Musste sich da nicht auch sein Lebensstrang von dem ihren unterscheiden?
Er spürte, wie neue Furcht in ihm emporkroch, wagte kaum, den Kopf zu drehen und über seine Schulter nach hinten zu blicken, dorthin, wo der silberne Strang aus seinem Körper austreten musste. Was, wenn seine Angst ihm sein gesamtes Leben lang die Wahrheit zugeflüstert hatte? Wenn das Kainsmal seiner Abstammung tatsächlich in ihm steckte, seine Seele von Ogaires widerwärtigem Erbe schon im Augenblick seiner Zeugung unwiderruflich befleckt und besudelt worden war? Ionosen hatte das zwar stets bestritten, aber nun würde er sehen können, ob es wirklich so war.
Die Vorstellung, statt eines hellen, schimmernden Bandes lediglich ein ekelerregendes, schwarzes Etwas zu erblicken, das wie ein toter, halb verwester Wurm aus seinem Rücken herausragte, schnürte ihm die Kehle zusammen, doch er musste es wissen. Noch einmal holte er tief Luft, dann wandte er den Kopf, spähte hinter sich – und hätte beinahe einen lauten Schrei ausgestoßen.
Was, um alles in der Welt, war das? Sein Lebensstrang war anders, vollkommen anders! Es war nicht einmal ein Strang, kein silberner, lautlos zwischen den Bäumen schwebender Strom aus Licht, der seine Seele und seinen Körper bis zum Ende seines Lebens mit dem schlagenden Herzen des Waldes verband. Stattdessen schien jede Faser seines Körpers, jede einzelne Zelle einen eigenen Strang zu besitzen. Sie vereinten sich in seinem Rücken zu einer gewaltigen, vitalen Einheit, sodass es aussah, als werfe er einen unendlich langen, riesenhaften Schatten, doch war dieser Schatten nicht dunkel, sondern so strahlend hell,
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