Wächter des Elfenhains (German Edition)
dass Andion geblendet die Augen schließen musste.
Aber er musste ihn gar nicht sehen. Als hätte die bloße Wahrnehmung seiner Existenz genügt, um auch noch den letzten Schleier endgültig von seinen Nervenenden zu ziehen, spürte Andion selbst durch seine geschlossenen Lider hindurch die gewaltige Kraft und Vitalität, die darin enthalten war. Es war eine Kraft, die bei Weitem alles überstieg, was Maifell und vermutlich auch jedem anderen Elfen von der Quelle zuteilwurde.
Andion schwindelte. Die Fäden, die gerade erst zaghaft damit begonnen hatten, ein Bild zu formen, in dem all die seltsamen und schrecklichen Ereignisse seines Lebens endlich einen Sinn ergaben, zerfaserten erneut ins Nichts, und abermals gruben sich Verwirrung und Zweifel in sein Herz.
Wie war das nur möglich? Konnte das Menschenblut in seinen Adern tatsächlich etwas Derartiges bewirken? Oder waren hier Kräfte am Werk, von deren Existenz weder er noch Ionosen – oder Ogaire – bislang etwas geahnt hatten?
Er versuchte, seinen jagenden Puls zu beruhigen, öffnete seine Augen und presste mehrmals kräftig die Lider zusammen, bis das leuchtende Gespinst der Lebensstränge verblasste und schließlich gänzlich verschwunden war. Doch nun, da er es einmal gesehen hatte, würde er es wieder tun können. Er wusste nicht, warum er sich dessen so sicher war, aber er spürte, es war die Wahrheit.
Sein Blick verschränkte sich mit dem Maifells, der die ganze Zeit über fragend und sorgenvoll auf ihm geruht hatte. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch er schüttelte nur leicht den Kopf, bat sie stumm um Verzeihung. Noch konnte er nicht darüber sprechen. Erst musste er herausfinden, was das zu bedeuten hatte, ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte – und ob Hoffnung darin lag.
Nach jenen Ereignissen am See endeten seine Spaziergänge mit Maifell. Er spürte, dass seine Zurückweisung sie schmerzte, sah es an dem Kummer in ihren Augen und dem Lächeln auf ihren Lippen, das erlosch, wann immer sie versuchte, die Vertrautheit der letzten Wochen zwischen ihnen wiederherzustellen, und er innerlich vor ihr zurückwich, hinter die Mauer aus Gleichgültigkeit und Schweigen floh, die er bei jedem Zusammentreffen mit Maifell mit verzweifelter Anstrengung immer höher und undurchdringlicher um seine Seele hatte emporwachsen lassen.
Es bedrückte ihn, ihr ihre Zuneigung und ihr Verständnis auf diese Weise zu vergelten, doch ihm blieb keine Wahl. Er hatte geschworen, Maifell vor Schaden zu bewahren, sie mit aller Kraft von dem Abgrund fernzuhalten, der schon Ionosen, Esendion und Alisera verschlungen hatte. Es war eine Notwendigkeit, die um so mehr an Dringlichkeit gewonnen hatte, da es ihm in den vergangenen Tagen noch nicht einmal im Ansatz gelungen war, Licht in das Dunkel zu bringen, das die rätselhaften Wahrnehmungen umgab, zu denen er – und offenbar nur er allein – fähig war. Dass es sich tatsächlich so verhielt, daran hegte er mittlerweile keinen Zweifel mehr, denn würde auch nur einer der Elfen sehen können, was er sah, würde mit Gewissheit das gesamte Dorf auf der Stelle in Aufruhr geraten.
Ein kalter Klumpen der Furcht begann in seinem Magen zu pochen, so oft er daran dachte, und bestärkte ihn in seinem Entschluss, gegenüber Maifell zu schweigen, bis er mehr über die Hintergründe des Ganzen in Erfahrung gebracht hatte – oder niemand mehr existierte, der aus diesen Erkenntnissen noch irgendeinen Nutzen hätte ziehen können. Denn was auch immer letztlich die Ursache für seine bemerkenswerten Fähigkeiten sein mochte, eins war gewiss: Etwas Unheimliches ging im Dorf der Elfen vor – etwas, das nur er Augen hatte zu sehen.
Stunde um Stunde, Tag um Tag hatte er seit seinem denkwürdigen Spaziergang am See draußen im Freien verbracht, hatte reglos auf dem breiten Ast vor seinem unfreiwilligen Krankenzimmer gekauert und in die Tiefe gestarrt, wo die Elfen ihren alltäglichen Arbeiten nachgingen. Inzwischen gelang es ihm mit beinahe spielerischer Leichtigkeit, den Schleier vor seinen Augen beiseitezuschieben und die Zauberwelt aus Licht, die darunter lag, zum Vorschein zu bringen, und mit angespannter Miene und zunehmend größerer Furcht blickte er hinab auf den silbrig schimmernden Ozean, der tief unter ihm in majestätischer Lautlosigkeit zwischen den Bäumen wogte.
Neanden und Gairevel ließen ihn gewähren, aber vermutlich nur, weil sie nicht wussten, was er tat, und er war dankbar dafür. Jede Ablenkung, jeder
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