Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
Vom Netzwerk:
leichtfertig vertane Augenblick der Konzentration mochte fatale Folgen haben, würde den Faden des Fallbeils, das über ihren Köpfen hing, ein klein wenig dünner machen. Und er war der Einzige, der das Fallbeil kommen sah.
    Zuerst war es ihm nicht aufgefallen, war er zu sehr wie ein staunendes Kind gewesen, das gerade ein neues Spielzeug unter dem Weihnachtsbaum entdeckt hatte, um zu bemerken, dass die Lebensstränge nicht so waren, wie sie eigentlich sein sollten. Natürlich hatte er nicht vergessen, was Ionosen ihm erzählt hatte, nachdem er nach seinem ersten Besuch im Hain in die Menschenwelt zurückgekehrt war. Er wusste um den Zauber, mit dem Ogaire die Quelle vergiftet hatte, und um die Elfen, die seitdem an diesem Gift gestorben waren. Damals hatte er zum ersten Mal begriffen, wie perfide und niederträchtig der Plan seines Vaters tatsächlich war, und er hatte ihn dafür gehasst, was er dem Wald und seinen Bewohnern angetan hatte; was er ihnen mit jedem Heben und Senken ihrer Brust und jedem Schlag ihres Herzens noch immer antat, 90 Jahre lang, Tag für Tag, Augenblick für Augenblick, bis von dem stolzen Volk der Elfen nur noch Knochen und Staub geblieben waren.
    Doch dies hier war anders. Er hätte die Veränderung der Lebensstränge nicht einmal sehen müssen, um nicht sofort die Unterschiede zu erkennen. Denn was er hier erblickte, war kein langsames, schleichendes Dahinsiechen, kein dünner, unsichtbarer Ölfilm, der den silbrigen Glanz der Lebensstränge unmerklich immer blasser und kraftloser werden ließ, so wie er es bei seinem ersten Besuch im Hain überall um sich herum gespürt hatte. Das Grauen, das nun über dem Wald der Elfen heraufzog, war weder unmerklich noch subtil, und was auch immer es herbeigelockt haben mochte, es erschreckte ihn zutiefst.
    Vor vier Tagen, unmittelbar nach seinem Spaziergang am See, hatte es begonnen. Als der erste Elf gestorben war, hatte er noch an einen Zufall geglaubt. Mittlerweile wusste er es besser. Der Tod wandelte unter ihnen, und was immer er berührte, wurde mit kalter, brutaler Macht aus dem Leben gerissen, welkte binnen weniger Stunden dahin wie eine Blume, die von einem Kind gepflückt und achtlos in der grellen Wüstensonne fallen gelassen worden war.
    Das war vielleicht das Erschreckendste von allem: nicht das Sterben als solches – das war seit Ogaires Verrat vor 90 Jahren zu einem ständigen, düsteren Begleiter geworden -, sondern die gespenstische Geschwindigkeit, mit der es geschah. Am Morgen waren die Lebensstränge der Todgeweihten noch normal, leuchteten hell und klar wie die aller anderen; am Abend war von dem wundervollen silbrigen Strom nur noch ein fleckiges, graues Rinnsal geblieben, das stockig und tot wie die Adern unter der bleichen Haut eines Leichnams zwischen den Bäumen hing, schließlich wie eine vertrocknete Nabelschnur von den Körpern der Elfen abfiel und als schwarze Asche zu Boden rieselte.
    Drei Tote in vier Tagen; dann erwischte es Tigarain, das uralte Mitglied des Ältestenrates, und Andion wusste, dass er zu lange gezögert hatte.
    Am Anfang, kurz nach seiner Entdeckung, hatte er noch nichts sagen, sondern zunächst weiter beobachten wollen. Das Vertrauen, das die Elfen ihm entgegenbrachten, gedieh ohnehin auf einem äußerst trockenen Boden und konnte jederzeit erneut in offenen Hass umschlagen, vor allem wenn er ihnen seine neuen, befremdlichen Fähigkeiten offenbarte und glaubte, sich als Prophet des Untergangs betätigen zu müssen, der mit dem Finger auf bestimmte Elfen zeigte, die wenige Stunden später gänzlich unerwartet leblos zusammenbrachen. Abgesehen von Maifell gab es vermutlich nicht einen einzigen Elfen, der ihm eine derartig wirre Geschichte abgekauft hätte, und bedachte man seine mehr als fragwürdige Herkunft und die Beliebtheit seines Erzeugers, wäre der Schuldige an der ganzen Misere wahrscheinlich schneller gefunden, als er An sagen konnte.
    Nach dem dritten Toten hatte er begriffen, dass das Sterben nicht aufhören würde, wenn er nicht etwas unternahm. Und ihm war mit jähem Erschrecken klar geworden, dass sein eigenes Zaudern sich gegen ihn gekehrt hatte; dass es vollkommen gleichgültig war, ob er handelte oder nicht. Die Stimmung im Dorf begann zu kippen, wurde immer düsterer und aggressiver, und unvermittelt hatte er das Gefühl, im Zentrum einer gewaltigen Gewitterwolke zu sitzen, die sich dichter und dichter um ihn zusammenballte. Doch erst mit Tigarains Tod brach das Verhängnis

Weitere Kostenlose Bücher