Wächter des Elfenhains (German Edition)
Totenfinger schienen über seine Haut zu kriechen und das Blut in seinen Adern in Eiswasser zu verwandeln, so oft er an Tigarain und ihren schrecklichen Tod dachte und an das Grauen, das nur er zu sehen vermocht hatte.
Andion schloss die Augen und holte zitternd Luft. Wie hatte Tigarains Lebensstrang nur in einer derart entsetzlichen Geschwindigkeit verfallen können? War das Herz des Waldes wirklich so krank? Hatte Ogaires widerwärtiger Zauber nach all den Jahren die Widerstandskraft der Quelle gebrochen? War das, was mit Tigarain geschehen war, nur ein erster Blick auf die Bestie, die bald auch die übrigen Elfen verschlingen würde? Oder – Andion schnürte es vor Grauen die Kehle zusammen – hatte Ogaires teuflischer Verstand einen Weg ersonnen, um die Quelle von außen zu beeinflussen? Konnte er den Zauber der Elfen, der ihn in der Menschenwelt festhielt, auf diese Weise umgehen und unwirksam machen?
Andion stöhnte leise und presste sich in ohnmächtiger Wut die Handballen auf die Augenlider. Was sollte er bloß tun? Durch Tigarains Tod schienen auch die letzten zarten Pflänzchen des Vertrauens, die – vielleicht – zwischen ihm und den Elfen in den vergangenen Wochen gewachsen waren, wieder verdorrt zu sein. Er konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Nur ein Narr – oder ein wundervolles Wesen wie Maifell, die stets bereit war, an das Gute in anderen zu glauben -, würde nicht auf die Idee kommen, seine Anwesenheit im Hain und das plötzliche Sterben miteinander in Verbindung zu bringen. Der Boden für Hass und Misstrauen war einfach zu fruchtbar, als dass die neue Saat nicht allzu bereitwillig darauf gediehen wäre. Und er konnte nichts weiter tun, als hilflos abzuwarten, bis sich die Tür seines Gefängnisses erneut für ihn öffnete – und diesmal würde vermutlich nichts das Fallbeil aufhalten, das dann auf ihn herabsausen würde.
Wie viel Galgenfrist ihm noch blieb, vermochte er nicht zu sagen. Schon kurz nach dem Eklat in der Halle der Ältesten hatte er gespürt, wie die Elfen tief unter ihm zwischen den Bäumen zusammengeströmt waren. Selbst hier oben in den Wipfeln fühlte er ihre aufgewühlten Emotionen, fühlte ihre Wut und ihr Entsetzen und den Würgegriff ihrer Angst, die wie vom Sturm gepeitschte Gischt zu ihm emporgeweht wurden. Sie hatten den Leichnam Tigarains aufgenommen und in einer schweigenden Prozession aus dem schattigen Zwielicht des Versammlungssaales hinaus in den hellen Sonnenschein getragen, und nun lag der leblose Körper der Ältesten in seinem Bett aus Blumen und Gräsern aufgebahrt neben den anderen Toten auf einer Wiese am Rande des Dorfes, wo er nach drei Tagen der Trauer und des Abschiednehmens der Erde zurückgegeben werden würde, aus der er hervorgegangen war.
Das gesamte Volk der Elfen war auf jener Lichtung zusammengekommen, um der uralten Elfenfrau die letzte Ehre zu erweisen, und selbst Neanden und Gairevel, seine beiden grimmigen Wächter, hatten ihren Platz vor der Tür seines Gefängnisses verlassen, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Aber das war bedeutungslos. Sogar wenn er nicht darauf achtete, spürte er das bedrohliche Knistern der magischen Barriere, die sie um seinen Kerker gewoben hatten und das allein schon ausreichte, um jeden Gedanken an Flucht bereits im Keim zu ersticken. Doch wohin hätte er auch gehen sollen? Im Hain würden ihn die Elfen jagen, und in der Menschenwelt lauerte Ogaire. Es gab keinen Ort, der ihm auf Dauer Schutz geboten hätte, und er war des Davonlaufens müde.
Andion straffte seine Schultern und atmete tief durch. Was immer das Schicksal auch für Schrecken für ihn bereithalten mochte, er würde ihnen aufrecht entgegentreten. Er wusste nicht, wann die Elfen kamen, um ihn zu holen, aber eins wusste er genau: Er würde bis zum letzten Atemzug darum kämpfen zu verhindern, dass Ogaire sein abscheuliches Spiel gewann.
Wie als Antwort auf seine düsteren Gedanken spürte er plötzlich durch die Wände seiner kleinen Kammer eine Präsenz, die sich ihm rasch näherte. Erschrocken hob er den Kopf, versuchte, sich gegen den Aufprall des Fallbeils zu wappnen, den er so lange gefürchtet hatte – bis er erkannte, wer da über die breiten Äste der Eiche auf die Tür seines Gefängnisses zugeeilt kam.
„Maifell“, flüsterte er, und sogleich spürte er, wie sein Herz schneller gegen seine Rippen zu schlagen begann. Erst jetzt merkte er, wie sehr er sie die ganze Zeit vermisst hatte, und er schämte sich dafür, dass er
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