Wächter des Elfenhains (German Edition)
und seine Macht aus ihm herauszuschlürfen, bis von ihm nur noch ein verkrümmtes, mumifiziertes Stück verkohlten Fleisches geblieben war. Doch diesmal würde es kein Traum sein.
Andion erzitterte bis ins Mark, fühlte die eisige Klinge der Furcht, die sich in seinen Magen grub, und biss grimmig die Zähne zusammen. Nein, dies war kein Traum. Diesmal war nicht er der Gejagte. Er war der Jäger! Allerdings – und dieser Gedanke ließ ihn noch fester die Lippen aufeinanderpressen – kam es durchaus vor, dass der Bär am Ende den Jäger fraß, vor allem, wenn man nicht all seine Konzentration und seinen Willen beisammenhielt. Er durfte keine Angst haben - oder sich wenigstens nicht von ihr ablenken lassen.
Als er schließlich die Lichtung betrat, auf der all der Schrecken und das Leid vor 90 Jahren ihren Anfang genommen hatten, fiel sein Blick sofort auf Ogaire. Sein Vater stand vor ihm, keine 50 Schritte von ihm entfernt, nur ein düsterer Schatten vor dem gleißenden Licht der Quelle, die hell wie die Sonne in seinem Rücken lohte. Lebensstränge wogten wie ein gewaltiges Meer um ihn herum, hüllten ihn in eine Korona aus silbrigem Weiß, die den finsteren Schattenriss seiner Gestalt noch bedrohlicher und Furcht einflößender machte, und seine schaurigen grünen Augen loderten wie kaltes Feuer, als er Andion über die verbrannte Asche der einst blühenden Wiese hinweg regungslos ansah. Es war der starre, hypnotische Blick einer Schlange, der ein frisch geschlüpftes Küken geradewegs vors geöffnete Maul getorkelt war, und er ließ Andions zaghafte Hoffnung, die stählerne Klinge von Ogaires Selbstbewusstsein könne angesichts der neu erwachten Kräfte seines Gegners möglicherweise ein paar Scharten bekommen haben, die in dem bevorstehenden Kampf vielleicht einen wenn auch nur winzigen Vorteil hätten bedeuten können, auf einen Schlag zu Staub werden. Sein Vater hatte ihn erwartet, und er verspürte offensichtlich nicht den Hauch eines Zweifels, wer von ihnen siegreich aus dieser Konfrontation hervorgehen würde.
Seine Kehle schnürte sich zusammen, und für einen schrecklichen, albtraumhaften Moment hatte Andion das Gefühl, als würde das ganze mühsam errichtete Bollwerk seiner Entschlossenheit von einem gewaltigen Windstoß gepackt und wie Papierfetzen in alle Richtungen davongeweht werden. Er konnte nichts denken, nichts tun, spürte nur seinen rasenden Herzschlag, der ihm schier den Brustkorb zu zerreißen drohte.
Doch der Moment verging. Andion holte tief Luft. Er war nicht die Beute, war nicht länger das ängstliche Kaninchen, das sich zitternd in ein Erdloch duckte, während der Habicht draußen seine Kreise zog. Er würde nicht noch einmal davonlaufen. Mochte Ogaire ihn anstarren, soviel er wollte, es bedeutete nichts. Wenn er glaubte, ihn auf diese Weise in die Knie zwingen zu können, so täuschte er sich.
Andion straffte seine Gestalt, sah seinem Vater fest in die Augen und ging langsam über die schwarze, verbrannte Fläche der Lichtung auf ihn zu. Ein Kräuseln lief durch die Finsternis, die einst Ogaires Seele gewesen war, als würde ein Raubfisch aus der Tiefe eines dunklen Sees an die Oberfläche emportauchen, ein Raubfisch mit nadelspitzen Zähnen und einem Hunger, der nach Jahrhunderten verzehrender Gier endlich ein Ziel gefunden hatte. Der Anflug eines Lächelns glitt über Ogaires Gesicht, so flüchtig wie eine Spinne, die unter einer Decke aus toten Blättern über den Waldboden huscht, doch seine Augen blieben starr, waren so kalt wie im Weltraum gewachsene Kristalle, während er regungslos beobachtete, wie Andion Schritt für Schritt näher kam.
„Du bist also gekommen, um dein Schicksal zu erfüllen.“
Eine Klaue aus Eis strich Andion den Rücken hinab, als sein Vater zu sprechen begann. Ogaires Worte waren weniger Frage als Feststellung gewesen - vorgebracht mit der überlegenen Selbstsicherheit eines beinahe unsterblichen Wesens, dem bewusst war, dass weder die Gesetze und Beschränkungen der materiellen Welt noch die irgendeiner anderen seinem Machtanspruch noch etwas entgegenzusetzen vermochten. Doch anders als früher, wo allein der bloße Gedanke an Ogaire ausgereicht hatte, um ihn für den Rest des Tages bei dem leisesten Geräusch in seinem Rücken erschrocken zusammenzucken zu lassen, spürte Andion, wie angesichts der maßlosen Arroganz und Selbstherrlichkeit, die ihm entgegenschlug, heiße Wut in ihm hochkochte. Beinahe ohne dass er selbst es merkte, stoppten seine
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