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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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er kaum mehr als zwei Bissen gegessen hatte und der dampfende Tee in seiner Tasse gänzlich unberührt geblieben war. Sein Hals war so eng, dass er einfach nichts herunterbrachte. Den Blick noch immer angestrengt auf den Boden zu seinen Füßen geheftet, kehrte er in sein Zimmer zurück und begann, seine Tasche zu packen.
    Natürlich würde er heute nicht zur Schule gehen, aber das durfte seine Mutter nicht erfahren. Wenn er ihr nicht noch mehr Kummer bereiten wollte, musste er sie anschwindeln und so tun, als sei alles in Ordnung. Noch eine Lüge mehr. Doch darauf kam es jetzt wohl auch nicht mehr an.
    Ein leises Geräusch in seinem Rücken ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Eigentlich hatte er erwartet, dass seine Mutter sich nach dem Frühstück in ihren Sessel zurückzog und erneut in ihre Stickerei vertiefte, doch sie war hier. Sie stand im Türrahmen und beobachtete ihn.
    Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung und begann unvermittelt zu rasen. Er spürte ihre Blicke auf sich ruhen, spürte die eisige Klammer ihrer Furcht und starrte noch konzentrierter auf seine Fußspitzen. Sein Blick verschwamm; hastig blinzelte er sich eine Träne fort und wandte sich zu ihr um.
    Doch als er sich mit gesenktem Kopf an ihr vorbei aus dem Zimmer schieben wollte, streckte sie plötzlich eine Hand nach ihm aus. Ganz leicht, so wie das Streicheln einer Feder, glitten ihre Fingerkuppen über seinen Arm, aber Andion blieb dennoch stehen, als sei unvermittelt ein Blitz durch seinen Körper gefahren. Er biss sich hart auf die Lippen. So gern würde er sie ansehen, würde ihre Berührung erwidern und sie für seine Dummheit um Vergebung bitten. Stattdessen zwang er seine Augen stur geradeaus.
    „Andion?“
    Ihre Stimme war ebenso zart wie ihr gesamtes Wesen, flüchtig, zerbrechlich, nur ein Hauch in einer viel zu rauen Welt.
    Er schluckte hart, einmal, zweimal, konnte nichts antworten.
    Sie zögerte. Er spürte es so deutlich, als könnte er ihre Gefühle aus ihrem Gesicht ablesen, spürte, wie sie mit sich rang – nein, nicht mit sich selbst, mit ihrer Angst, mit dem widerwärtigen, schwarzen Krebsgeschwür, das ihr von seinem Vater in die Seele gepflanzt worden war. Und sie gewann. Heute gewann sie tatsächlich, wenn auch nur einen kleinen Sieg.
    „Ich habe dir wehgetan“, sagte sie leise. Ihre Worte ritten auf einer Welle echten Mitgefühls, tiefen Bedauerns und bitterer Reue.
    Er winkte hastig ab. „Das ... war nicht der Rede wert.“
    Die Lüge lag schwer wie ein Stück Blei auf seiner Zunge, zog seinen Magen zu einem harten, pochenden Knoten zusammen. Er spürte, wie sie innerlich erbebte.
    „Aber ich ... ich habe dich geschlagen !“
    Andion schloss die Augen, biss sich noch fester auf die Lippe. Seine Kehle war so eng, dass er kaum noch Luft bekam. „Es ... es ist okay, Mom. Es war meine Schuld. Ich hätte nicht ...“
    Er brach ab, als sie plötzlich ihre Hand ausstreckte. Sie berührte ihn am Kinn, hob es sachte an und drehte seinen Kopf zu ihr. Erschrocken wandte er die Augen ab.
    „Andion. Bitte sieh mich an!“
    Er zuckte innerlich zurück. „Ich ... ich kann nicht!“
    „Bitte!“
    Ihr Flehen war so gramerfüllt, so voller Verzweiflung, dass Andion schließlich nachgab.
    Er holte zitternd Luft, dann öffnete er langsam die Augen und wandte ihr seinen Blick zu. Seine Rückenmuskulatur verkrampfte sich, und sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren wie die Glocke des Jüngsten Gerichts, die ihn zu seiner ewigen Verdammnis rief. Gleich würde neue Furcht ihr Gesicht verzerren, gleich würde sie vor ihm zurückweichen, wenn die eisigen Wogen der Erinnerung abermals über ihr zusammenschlugen und sie wieder zurück in die Finsternis rissen, zurück in die Hölle aus Grauen und Schmerz, in die sie sein Vater vor 17 endlosen Jahren verbannt hatte.
    Doch sie kämpfte. Sie konnte die Flut der Dunkelheit in ihrer Seele nicht aufhalten, aber für einen winzigen Moment schaffte sie es, darauf zu schwimmen wie ein Korken auf stürmischer See, wenn auch Tränen in ihren Augen glitzerten. Sie strich ihm sanft über die Wange.
    „Es ist nur dieselbe Farbe“, flüsterte sie. „Nur das, nicht mehr.“
    Andion schluchzte auf, schwankte hilflos in seinem Kummer und seinem Schmerz. Von einer Sekunde zur anderen hatte er das Gefühl, als würde es ihn innerlich zerreißen, als würde seine Seele unter dem Gewicht seiner Trauer und seiner Qual unwiderruflich in tausend Scherben zerspringen. Sie schien es zu spüren, kam

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