Wächter des Elfenhains (German Edition)
eine Frage der Zeit gewesen, bis das Kartenhaus seiner naiven Hoffnungen und Illusionen endgültig in sich zusammenstürzte und die kalte, grausame Wahrheit dahinter zum Vorschein kam – eine Wahrheit, die er zwar immer gekannt, die ein Teil von ihm aber offensichtlich trotzdem bisher geleugnet hatte. Obwohl er jeden Tag aufs Neue mit seinem Unvermögen und seinem Versagen konfrontiert worden war, hatte er trotz allem tief in seinem Inneren daran geglaubt, dass vielleicht doch noch alles gut werden würde, dass die zerbrochene Seele seiner Mutter vielleicht doch wieder heil werden konnte, wenn es ihm nur gelang, sie während seiner Anwesenheit so wenig wie möglich mit dem hässlichen, verderbten Kern seines wahren Wesens zu kontaminieren. Er hatte versucht, in ihrer Gegenwart selbst zum Schatten zu werden, zu einem Gespenst wie sie, einer vagen, verschwommenen Erinnerung an vergangenen Schmerz, die verblasste, ehe sie noch richtig Gestalt angenommen hatte. Aber seine Hoffnung, auf diese Weise die Wunden, die sein Vater ihr geschlagen hatte, wieder schließen zu können, war vergeblich gewesen, war nichts weiter als die närrische Fantasie eines kleinen Kindes, das sich verzweifelt an etwas klammerte, das es niemals haben konnte.
Ian hatte recht gehabt. Hätte statt des Kerzenständers ein Messer auf dem Nachttisch seiner Mutter gelegen, hätte ihre Flucht vermutlich heute Abend ein jähes, blutiges Ende gefunden.
Zitternd ließ er den Kopf auf seine Knie sinken; Tränen rannen heiß seine Wangen hinab, tränkten den Stoff seines Pyjamas mit seiner Qual. Wäre Ian nicht aufgetaucht, hätte es zweifellos übel ausgehen können. Die dumpfen Schmerzen, die überall dort pochten, wo die Schläge seiner Mutter ihn getroffen hatten, waren ein beredtes Zeugnis des Wahnsinns, den er so leichtfertig heraufbeschworen hatte, und eine düstere Warnung, die ihn eindringlich gemahnte, auch das winzigste, zaghafteste Pflänzchen seiner kindlichen Sehnsucht nach mütterlicher Liebe, das noch der kalten, trostlosen Wirklichkeit zu trotzen versuchte, ein für allemal aus seinem Herzen zu brennen.
Offensichtlich in voller Absicht hatte Ian lediglich die Platzwunde an seiner Stirn versorgt, die Prellungen und Blutergüsse an seinen Schultern und seinem Brustkorb jedoch unbehandelt gelassen. So etwas hatte er noch nie getan, und selbst wenn Andion nicht seinen lodernden Zorn gespürt und in sein hartes, abweisendes Gesicht geblickt hätte, hätte allein das genügt, um ihm den Ernst der Situation deutlich vor Augen zu führen.
Er schluchzte leise auf, dann hob er den Kopf und starrte dumpf durch das sterile Kunstlicht der Schlafzimmerlampe zum Fenster hinüber, starrte durch die dünne Scheibe in die wogende Dunkelheit dahinter. Sollte ihn Ogaire doch holen, wenn es ihn so sehr danach gelüstete! Vielleicht wäre es tatsächlich am besten so. Dann hätte die Qual endlich für alle ein Ende.
Irgendwann dämmerte schließlich ein neuer Morgen herauf, und die Finsternis hinter dem Fenster wich widerwillig einem blassen Schimmer grauen Lichts. Die Sonne verbarg ihr Antlitz verschämt hinter einer düsteren Wolkendecke, die umso dichter zu werden schien, je öfter Andion einen Blick nach draußen warf.
Resigniert ließ er den Kopf hängen. Jetzt mochte ihm also nicht einmal mehr die Sonne ins Gesicht scheinen.
Mechanisch erhob er sich vom Boden und zog sich an. Die Wohnung lag in tiefem Schweigen, als er schließlich sein Zimmer verließ. Nicht einmal das Holz an der Decke und den Wänden gab einen Laut von sich, schien ebenso wie das Licht angewidert vor ihm zurückzuweichen. Mit hängenden Schultern schlurfte er in die Küche und begann, das Frühstück zuzubereiten. Mit jeder Minute, die verstrich, spürte er, wie sein Herz schneller gegen seine Rippen wummerte und seine Handflächen vor Anspannung und Nervosität feucht wurden. Mit allen Sinnen lauschte er in die Stille hinaus, lauschte auf die Emanationen von Furcht und Verzweiflung, die wie feiner Nebel in der Luft schwebten, lauschte auf das leise Geräusch von Schritten, die sich ihm zaghaft näherten.
Sie kam, als er gerade fertig war. Ohne ein Wort setzte sie sich zu ihm an den Tisch. Sie aßen schweigend, so wie jeden Morgen. Andion wagte nicht, auch nur ein einziges Mal den Kopf zu heben. Sie sollte nicht schon wieder in seine Augen blicken müssen, sollte nicht schon wieder an das Monster erinnert werden, das sie so sehr verletzt hatte.
Schließlich stand er auf, obwohl
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