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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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Geschichten, die ihr trauriges Ende in verdorrten Zweigen oder abgestorbenen Wurzeln fanden, spürte den Kummer der Bäume über tote Küken in viel zu kleinen Nestern, spürte all dies mit wachsendem Zorn.
    Nichts davon war gut. So sollte es nicht sein! Es sollte hier keine Häuser und Straßen geben! Der Boden, das Land gehörte dem Wald, den Bäumen und den Tieren. Wo sich jetzt die widerwärtigen Betonklötze der Menschen mit ihren grausam scharfen Winkeln und Kanten wie die Zähne titanischer Raubtiere ins schutzlose Fleisch der Erde gebohrt hatten, sollten mächtige, uralte Eichen wurzeln, sollten weise Buchen um das Licht der Sonne wetteifern und Schlehen, Ahorn und Eschen unzähligen Tieren Nahrung spenden.
    Er konnte sie fühlen, konnte spüren, welcher Baum an welchen Platz gehörte, wusste, wo welcher Busch wachsen müsste. Beinahe ohne es selbst zu merken, wurden seine Schritte langsamer und langsamer und stockten schließlich ganz. Die Ampel an der Kreuzung, die er gerade hatte überqueren wollen, die Autos, Lkws und Busse, die knatternd und stinkend an ihm vorbeibrausten, all das verschwamm vor seinen Augen, und er erblickte das Land so, wie es eigentlich sein sollte.
    Erst war es nur die Silhouette einer knorrigen Eiche, die sich flüchtig vor der nächsten Hauswand abhob, dann kam der Schatten einer hoch aufstrebenden Buche hinzu, gleich darauf der einer zweiten. Farben und Formen wurden rasch intensiver, durchscheinende Äste wurden fest, erlangten Struktur, Blätter entfalteten sich wie grüne Fächer an elastischen Zweigen, Stämme wurzelten zwischen lebendigen Büschen und Gräsern, die wie kunstvolle Ornamente den Boden schmückten.
    Andion blickte atemlos umher, war wie berauscht von so viel Leben, so viel Vitalität. Die Häuser, die Menschen, die Fahrzeuge, all das wurde immer blasser und durchsichtiger, verlor mehr und mehr an Realität. Leichter Wind hob an, begrüßte ihn, rief nach ihm, umwob ihn mit einer sanften, zärtlichen Melodie, betörend und drängend zugleich, hüllte ihn ein wie ein leises, sehnsuchtsvolles Lied, das direkt zu seiner Seele zu sprechen schien. Die Luft, eben noch stickig und schwer von Lärm und Gestank, war plötzlich erfüllt vom Rauschen der Bäume. Gewaltige grüne Wipfel neigten sich ihm majestätisch entgegen, schienen ihn mit tausend uralten Gesichtern erwartungsvoll zu betrachten.
    Winzige, zartgliedrige Feen, kaum größer als Schmetterlinge, stiegen aus den bunten Blüten der Waldblumen empor, erst einzeln, dann in Pärchen, schließlich mehr, als er zu zählen vermochte. Sie erhoben sich auf durchsichtigen Schwingen in die Lüfte und tanzten dort mit den Sylphen, die auf Vögeln oder dem Wind selbst ritten. Auch sie sangen seinen Namen, das Drängen wurde stärker, bekam eine Richtung.
    Unwillkürlich machte Andion einen Schritt nach vorn, dann noch einen. Irgendwer rief etwas, ein misstönendes Kreischen und dumpfes Hupen folgte, doch er nahm keines dieser Geräusche bewusst wahr. Sie waren nicht länger ein Teil seiner Welt, waren so weit von ihm entfernt wie das sinnlose Plappern eines vergessenen Radios in einem schon vor langer Zeit verlassenen Haus. Er musste weitergehen, musste dem Drängen folgen.
    Plötzlich streifte ihn etwas hart an der Seite. Er wurde beinahe zu Boden gerissen, wankte. Greller Schmerz ließ seinen Traum zersplittern. Das Hupen! Er musste mitten auf die Straße geraten sein!
    Doch er konnte sie nicht sehen! Alles, was er sah, waren Bäume - ein Wald, den es hier überhaupt nicht geben durfte, ein Wald, der trotzdem realer war als alles andere um ihn herum.
    Kalte Panik grub sich in sein Herz. Ob er sie sah oder nicht, die Autos würden ihn dennoch überfahren. Eines musste ihn bei seinem unkontrollierten Herumtorkeln bereits gestreift haben, und wenn er nicht sofort von der Straße herunterkam, konnte der nächste Aufprall tödlich enden.
    Hilflos stolperte er voran. Wohin? Wohin sollte er gehen? Wo war nur der verdammte Straßenrand? Er konnte sich doch nicht so weit auf die Fahrbahn verirrt haben! Aber so sehr er sich auch konzentrierte, er sah noch immer nichts außer Bäumen. Lediglich das Hupen und Dröhnen der Autos schien mehr und mehr anzuschwellen, türmte sich um ihn auf wie eine Woge aus brüllenden Dämonen, die danach lechzten, sich auf ihn zu stürzen und ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen.
    Mit zusammengebissenen Zähnen stolperte er vorwärts - die falsche Richtung. Noch mehr Hupen, noch mehr

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