Wächter des Elfenhains (German Edition)

kreischende Bremsen. Die Straße war breit. Drei Fahrbahnen, drei zu viel für jemanden, der keine von ihnen sehen konnte.
    Schreie wütender Auto- und Motorradfahrer stoben vorbei, mischten sich in ein tiefes, bedrohliches Brummen, das von Sekunde zu Sekunde lauter wurde. Ein LKW. Doch von wo kam er?
    Verzweifelt drehte sich Andion im Kreis. Eine Hupe dröhnte auf, wild, fordernd. Andion spürte die Gefühle des Fahrers, spürte, dass er nicht bremsen wollte, sich darauf verließ, dass dieser hirnlose Idiot schon rechtzeitig zur Seite sprang.
    Andion war wie gelähmt, war wie ein Reh, das nachts im Kegel eines Scheinwerfers zu Stein erstarrte. Er fühlte, wie der Fahrer begriff, dass er bremsen musste. Doch zu spät. Er würde ihn treffen. Der Fahrer wusste es, und Andion wusste es auch. Es war vorbei. Seine Muskeln verkrampften sich, erwarteten den tödlichen Aufprall.
    Ein hoher, schriller Schrei durchschnitt plötzlich die Luft, übertönte das Brüllen des heranrasenden Kolosses. Gleichzeitig spürte er das Rauschen kräftiger Schwingen im Gesicht und erhielt einen harten Schlag vor die Brust. Er stolperte zurück, stieß mit den Hacken gegen die Bordsteinkante und fiel hintenüber. Der brutale Aufprall ließ jähen Schmerz durch seinen Rücken lodern, und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, senkte sich ein schweres Gewicht auf seine Brust herab und nagelte seinen verkrümmten, keuchenden Körper unbarmherzig am Boden fest.
    Sekundenlang blieb ihm die Luft weg, und sein Blick verschwamm. Als er sich wieder klärte, waren die Bäume verschwunden, und die Stadt war zurückgekehrt. Eine dichte Traube von Menschen hatte sich um ihn gebildet. Alle starrten sie ihn an, einige mit missbilligend gerunzelter Stirn und offener Ablehnung in ihren kalten, anklagenden Blicken, andere mit großen, staunenden Augen, die voll verwirrter Faszination auf ihm ruhten. Ungläubiges Raunen und zorniges Getuschel erfüllten die Luft wie das fiebrige Summen gereizter Hornissen; Flüche und wütende Beschimpfungen prasselten auf ihn nieder, einige andere hingegen brachten lediglich ein verblüfftes Keuchen zustande und deuteten beinahe ehrfürchtig mit dem Finger auf ihn.
    Andion hatte keinen Blick für sie übrig. Ebenso ungläubig wie sie starrte er auf den Schwan, der mitten auf seiner Brust hockte und ihn mit seinen glitzernden schwarzen Augen aufmerksam musterte.
    „Esendion!“, flüsterte er.
    Wie zur Bestätigung neigte der Schwan den Kopf. Dann bog er seinen langen Hals und sah bedeutungsvoll zur Straße zurück, wo die Autos, Lkws und Motorräder, ohne von dem Menschenauflauf auch nur die geringste Notiz zu nehmen, wie ein reißender, alles verschlingender Strom aus Chrom und Metall an ihnen vorbeirauschten.
    Ein eisiger Schauer rann Andion den Rücken hinab. Esendion hatte ihn gerettet! Er hatte ihn von der Straße und damit aus der Reichweite der Autos gestoßen. Aber wie hatte der Schwan die Gefahr spüren können, in der er sich befand? Wie hatte er sie überhaupt begreifen können? Er war doch nur ein Tier! Nur ein Tier.
    Als hätte er seine Gedanken gelesen, fuhr Esendions Kopf zu ihm herum. Er hackte kurz mit dem Schnabel nach ihm, nicht schmerzhaft, eher wie ein ungeduldiger Schulmeister, der einem ungelehrigen Schüler einen Klaps auf den Hinterkopf gab.
    Andion zuckte erschrocken zusammen. Die glitzernden schwarzen Augen des Schwans ruhten auf ihm, musterten ihn mit einer Eindringlichkeit und Klugheit, dass seine Wangen vor Scham zu brennen begannen. Esendion neigte graziös sein Haupt, akzeptierte so seine stumme Entschuldigung. Gleich darauf breitete er die Flügel aus, erhob sich mit ein paar kräftigen Schlägen in die Luft und flog davon.
    Benommen starrte Andion ihm hinterher. Für zwei, drei Sekunden glotzten alle mit offenem Mund nach oben, verfolgten gebannt, wie die schneeweiße Gestalt des Schwans am wolkenverhangenen Himmel kleiner und kleiner wurde und schließlich hinter den Dächern der Häuser ihren Blicken entschwand. Als hätte sich mit dem letzten Aufblitzen von Esendions schimmerndem Gefieder ein unsichtbarer Zauber gelöst, ruckten die Köpfe des Mobs herum, und unversehens fand sich Andion erneut im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder. Er lag noch immer am Boden, und als er so plötzlich von mehreren Dutzend Augenpaaren voller Unverständnis und zorniger Empörung durchbohrt wurde, kam er sich mit einem Mal vor wie ein bizarres außerirdisches Schuppenmonster, das gerade zur