Wächter des Elfenhains (German Edition)
kreativen Höhenflügen inspiriert hatte.
So schlimm waren seine Träume noch nie gewesen, so real hatten sie sich nie zuvor angefühlt. Er glaubte noch immer, Ogaires mitleidlose Stimme zu hören und seine eisigen Finger auf seiner Brust zu spüren, und obwohl er sich der Irrationalität seiner Gefühle vollkommen bewusst war, hätte ihn in diesem Moment nichts auf der Welt davon zu überzeugen vermocht, dass er nicht eines grausamen und qualvollen Todes sterben würde, sollte Ogaire ihn jemals finden. Er erfror in seiner Angst, konnte sich nicht mehr rühren, konnte nur noch zittern, wusste nicht, wie er sich je wieder würde bewegen können.
Doch er saß noch nicht einmal eine Minute reglos da, als er die Schreie aus dem Nebenzimmer hörte. Seine Mutter. Sie schrie in Todesangst, wie so oft im Schlaf. Oder war es heute real?
Wankend zwang sich Andion auf die Füße. Er musste sofort zu ihr. Er musste ihr helfen, sie wecken, falls sie träumte, sie retten, falls sie wirklich in Gefahr war. Er durfte sie nicht im Stich lassen.
Auf dem Weg zur Tür stolperte er zweimal, ging in die Knie, raffte sich wieder auf, rang mit aller Macht gegen seine eigene Furcht und Schwäche. Selbst wenn seine Mutter lediglich träumte, war sie in Gefahr. Mehr als einmal hatte sie sich im Schlaf durch ihre heftigen Bewegungen selbst verletzt.
Drei Herzschläge später stand er in ihrem Zimmer. Er machte Licht und sah sofort, dass sie sich wie in einem schrecklichen Kampf mit einem unsichtbaren Feind im Bett hin und her warf.
„Mom!“, rief er erschrocken, eilte zu ihr, fasste sie an den Schultern, hielt sie fest.
„Mom, wach auf! Bitte!“
Drei-, viermal musste er seine Worte wiederholen, bevor sie reagierte, dann zuckten ihre Lider plötzlich hoch.
Sie sah ihm direkt in die Augen. Ein Schrei höchster Panik sprang von ihren Lippen. Sie riss sich von ihm los, stieß ihn fort. Andion verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und schlug hart mit dem Kopf auf den Boden.
Sie setzte nach. Sie war sich ihrer selbst nicht bewusst, sah nur ihn, sah in ihm den Feind. Wie von selbst lag plötzlich der unterarmlange Messingkerzenhalter, der auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, in ihrer Hand. Sie schwang ihn wie von Sinnen, erwischte Andion an der Stirn.
Schmerz stach wie eine feurige Lanze durch seinen Kopf. Er sackte benommen zur Seite. Sie kam wie eine Furie über ihn. Der Kerzenständer sauste auf ihn herab, wieder und wieder und wieder, nagelte ihn wie ein Insekt mit verkrüppelten Flügeln am Boden fest.
„Mom, bitte!“, rief Andion verzweifelt, krümmte sich zusammen, versuchte, sein Gesicht so gut es ging vor ihren Schlägen zu schützen.
„Mom, bitte, hör auf! Ich bin es! Dein Sohn!“
Doch sie hörte ihn nicht. Keine Macht der Welt, keine Stimme, erst recht nicht seine, konnte sie an dem Ort des Schreckens, an dem ihre Seele zurzeit verweilte, erreichen.
Ihre Schläge wurden noch härter, sie traf ihn auf den Armen, an den Schultern, am Rücken. Andion rollte sich hilflos am Boden zusammen, ertrug den Schmerz, tat nichts, um sie aufzuhalten.
Doch plötzlich war eine andere Hand da. Sie griff nach dem Kerzenständer, entwand ihn seiner Mutter und warf ihn fort.
„Hör auf!“, durchdrang Ians Stimme ungewohnt befehlend den Wahnsinn.
Er zog sie von Andion fort, hielt sie fest, flüsterte ein paar Worte und strich ihr leicht übers Gesicht. Sie erschlaffte sofort. Ian fing sie auf, trug sie zum Bett, legte sie dort behutsam nieder und deckte sie zu.
Dann drehte er sich um. Sein sonst so gütiges Gesicht war zu einer steinernen Maske erstarrt, und seine blauen Augen versprühten einen so intensiven Zorn, dass Andion unwillkürlich zurückwich. Zum ersten Mal hatte er Angst vor Ian.
Ians grimmige Miene änderte sich nicht, als er mit zwei schnellen Schritten zu ihm trat und ihn auf die Füße zog. Unsanft bugsierte er ihn aus dem Raum, drückte ihn im Flur in den nächsten Sessel und packte ihn hart am Kinn.
Andion wich seinem Blick aus, während Ian schweigend seine Verletzungen begutachtete. Der Kerzenhalter hatte ihm beim ersten Schlag die Haut über der rechten Schläfe aufgerissen. Erst jetzt spürte er, dass ihm warmes Blut über die Wange bis zum Kinn rann und von dort nach unten tropfte. Ian schloss die Wunde mit seiner besonderen Gabe, doch jetzt fühlte sich die Heilung nicht so sanft und tröstlich an wie noch am Nachmittag. Ians ganze Wut lag darin.
Kaum war die Blutung gestillt, ließ er ihn abrupt
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