Wächter des Elfenhains (German Edition)
geruht. Unvermittelt grub sich eisige Furcht in sein Herz, und sein Magen krampfte sich in Erwartung des Unheils zusammen, das seinen achtlos hervorgestoßenen Worten unabwendbar folgen musste.
„Ja, Andion. Ich weiß es. Und ich bin mehr als froh, dass Esendion in der Nähe war. Ohne ihn hätte es böse ausgehen können.“ Er stockte, holte dann tief Luft. „Wenn der Hain uns ruft, verliert die Welt der Menschen an Bedeutung. Selbst wenn wir wissen, was geschieht, sind wir einen Moment lang von der Schönheit seines Anblicks so verzaubert, dass wir vergessen, dass wir trotz allem noch immer ein Teil jener Welt sind und sie uns noch immer zu berühren – und zu töten – vermag.“
Andion runzelte die Stirn und schaute Ian verwirrt an. „Der ... Hain?“
Ian nickte bedächtig. „Der Wald, den du gesehen hast. Das war der Hain.“
Andion erstarrte. „Der Elfenhain.“ Er schluckte mühsam, bebte plötzlich am ganzen Leib. „Dann ... dann bin ich nicht verrückt?“
Ian lächelte schwach. „Nein, ganz sicher nicht. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.“ Seine blauen Augen ruhten mit verstörender Eindringlichkeit auf ihm, bannten seinen Blick. „Es gibt so vieles, was du nicht über dich weißt, Andion, und ich wünschte von Herzen, ich könnte dir dieses Gespräch noch ein wenig länger ersparen, aber die Zeit des Versteckspielens ist nun vorüber. Der Hain hat dich zu sich gerufen, und du musst die Wahrheit kennen, bevor du dem Ruf folgst.“
Andion wich unwillkürlich zurück. „Wahrheit? Welche Wahrheit?“
„Die Wahrheit über deine Herkunft. Die Wahrheit über deine Bestimmung.“
Andion keuchte auf. Die Bedeutung von Ians Worten loderte wie ein Blitz durch seine Seele, nahm ihm beinahe die Luft zum Atmen. Tief im Inneren hatte er es stets gespürt, hatte er es stets gewusst. Ängstlich hatte er all die Jahre den Blick davon abgewandt, doch jetzt wurde er gezwungen hinzusehen. Und er sah, was die ganze Zeit über offen vor seinen Augen gelegen hatte. Ians Geschichten über die Elfen, ihren Hain und all die wundersamen Wesen, die dort lebten – sie waren wahr. Sie waren alle wahr!
Aber das bedeutete auch ...
Andion sprang auf. „Nein!“, schrie er außer sich. „Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!“
Ians stand ebenfalls auf. „Andion, es tut mir leid, aber ...“
Andion wich zurück. „Ich will das nicht hören! Lass mich in Ruhe!“
Abrupt warf er sich herum und rannte davon, floh vor der grauenvollen Gewissheit, die seine Seele in Trümmer zu legen drohte.
6. Kapitel
Blind vor Entsetzen stürzte Andion durch den Park. Er rannte, bis seine Lungen vor Erschöpfung zu brennen begannen und sein Atem nur noch als qualvolles Pfeifen über seine Lippen kam, rannte, bis das Stechen in seiner Seite ihn in der Mitte entzweizureißen schien und ihm war, als wolle sein rasendes Herz jeden Augenblick wie ein zu prall gefüllter Luftballon seinen Brustkorb sprengen.
Schließlich blieb er keuchend stehen, lehnte sich schwer gegen den rauen Stamm einer mächtigen Eiche und rang verzweifelt nach Atem. Würgende Übelkeit zog ihm den Magen zusammen, trieb bittere Galle seine Kehle hinauf. Stöhnend presste er sich eine Faust auf den Leib, dann gaben seine zitternden Beine unter ihm nach, und er sank kraftlos auf die Knie. In einem wilden Anfall von Selbsthass wollte er seinen Kopf gegen den Baum schmettern, wieder und wieder und wieder, wollte die grauenhafte Wahrheit irgendwie aus seinem Schädel vertreiben, die sich wie ein hungriger Wurm in ihn hineingegraben hatte und ihr fauliges Gift in seine Seele pumpte.
Stattdessen schloss er die Augen, ließ seine Stirn gegen die warme Rinde der Eiche sinken und weinte. Tränen rannen als glitzernde Perlen seine Wangen hinab, tropften von seinem Kinn zu Boden, benetzten die trockene Erde mit seinem Gram. Sein Körper krümmte sich zusammen, und seine Schultern bebten, als Schreie der Qual in seiner Kehle gellten und keinen Weg nach draußen fanden.
Irgendwann war Ian bei ihm, legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. Andion reagierte lange nicht auf die sanfte Berührung, und Ian drängte ihn nicht dazu. Schweigend saß er bei ihm unter dem Blätterdach der Eiche; Mitgefühl, Sorge und Kummer umgaben ihn wie eine Aureole aus goldenem Licht, hüllten ihn in eine beinahe körperlich greifbare Aura liebevoller Zuwendung, die nur noch von einem einzigen anderen Gefühl überstrahlt wurde: bedingungslose
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