Wächter des Elfenhains (German Edition)
Vivisektion vorbereitet werden sollte. Er spürte ihre Ablehnung, ihre Verwirrung und Wut gegenüber allem, was anders war als sie, spürte den Abgrund, der mit jeder Sekunde, die er wie ein Wurm vor ihnen im Staub herumkroch, breiter und unüberwindbarer wurde, und sprang hastig auf die Füße.
Um ein Haar wäre er gleich wieder eingeknickt. Seine linke Hüfte schmerzte höllisch, dort, wo ein Auto ihn gestreift haben musste. Offenbar hatte es der Fahrer nicht für nötig befunden, anzuhalten und sich zu vergewissern, ob sein hilflos über die Straße torkelndes Opfer die Kollision mit der Motorhaube seines Wagens ohne Knochenbrüche oder schwerwiegende innere Verletzungen überstanden hatte. Andion biss grimmig die Zähne zusammen. Vermutlich hätte es ihn selbst dann nicht gekümmert, wenn sein zerschmetterter Körper in einer Lache aus Blut und Gedärmen auf dem Asphalt gezuckt hätte oder ihm das Gehirn aus seinem geborstenen Schädel wie ein Klumpen matschigen Schnees auf die Windschutzscheibe gespritzt wäre.
Unsicher wankte er zur nächsten Hauswand hinüber und stützte sich schwer dagegen. Die Augen der Leute folgten ihm. Sie fragten ihn nichts, halfen ihm nicht, fixierten ihn jedoch mit ihren Blicken. Er wollte fort von hier, fort von diesem kaltherzigen Rudel Wölfen, das nichts tat, um seine Schmerzen zu lindern, fort, bevor noch irgendjemand auf die Idee kam, beim nächsten Psychiater anzurufen und zwei breit gebaute Pfleger mit einer höchst unbequemen Jacke nach ihm auszusenden.
Doch er konnte kaum laufen, schon gar nicht schnell. Seine Hüfte schmerzte von Minute zu Minute stärker, seine Beine waren zittrig und schwach, und das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass es beinahe den Lärm der fahrenden Autos übertönte. Ohne Hilfe würde er nicht weit kommen. Er würde unter den Augen der gaffenden Meute zusammenbrechen, und dann würden sie ihn packen, würden ihn irgendwohin schleifen und ihm Fragen stellen, Fragen, die er nicht beantworten konnte.
Eine Woge der Verzweiflung überkam ihn. Jegliches Leugnen und Aufbegehren hatte am Ende nichts genützt. Vielleicht sollte er sich einfach in das Unvermeidliche fügen, vielleicht war es an der Zeit, die hässliche Wahrheit endlich zu akzeptieren. Er war verrückt! Noch länger konnte er beim besten Willen nicht mehr daran zweifeln. Vermutlich wäre es für alle das Beste, wenn sie ihn wegsperrten, bevor er anderen Menschen ein Leid zufügte, so wie sein Vater es getan hatte.
Er sackte in die Knie, war bereit, das Urteil anzunehmen, das die Mächte des Schicksals über ihn gesprochen hatten. Der Schatten seiner Vergangenheit war zu lang, seine Bösartigkeit zu widerwärtig und allumfassend, um ihm auf Dauer entfliehen zu können. Er war ein Narr gewesen, etwas anderes zu glauben. Er schloss die Augen; sein Kopf sank herab, und eine einsame Träne rollte lautlos über seine Wange.
Da griff plötzlich eine starke Hand nach seinem Arm und zog ihn behutsam vom Boden hoch. Ian.
„Komm mit“, sagte er leise. Er stützte ihn, brachte ihn fort von den Schaulustigen, fort vom Ort seiner Demütigung und Qual.
Andion ließ sich widerspruchslos von Ian führen, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Die Welt um ihn herum, seine Gefühle, Ängste und Schmerzen schienen auf einmal merkwürdig surreal und fern, drifteten davon wie die Fragmente eines Traums, der zu fremdartig und bedrohlich war, um an der glatten Oberfläche der Wirklichkeit haften zu bleiben.
Kurz verlor er den Faden. Als seine Gedanken wieder klar wurden, waren sie bereits im Park, zwischen den Bäumen. Mit Ians Hilfe humpelte er noch ein paar Schritte weiter, ehe er ohne einen Laut zu Boden sank. Zitternd vor Schwäche schloss er die Augen, presste einen Arm vor die Stirn und versuchte, an nichts zu denken, während das Feuer in seiner Hüfte und die pochenden Schmerzen der Prellungen und Blutergüsse unter Ians sanfter Berührung von Sekunde zu Sekunde mehr zu einer bloßen Erinnerung wurden.
Ian musste ihm den Arm schließlich mit sanfter Gewalt vom Gesicht ziehen. Andion erwartete, dass er ihn nun fragen würde, was, zum Teufel, jetzt schon wieder passiert war, doch als er in Ians Augen blickte, fand er in ihnen eine unerwartete Wahrheit.
„Du weißt es, Ian! Du weißt, was mit mir los ist!“
Ian nickte langsam. Noch nie hatte Andion einen derart tiefen Schmerz in seinem Gesicht gesehen, noch nie hatten seine blauen Augen so voller Kummer und Mitgefühl auf ihm
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