Wächter des Elfenhains (German Edition)
Blut.
„Kristin“, rief Mr. Colegrave schrill. „Lauf zum Pult! In meiner Tasche ist ein Handy. Ruf sofort einen Krankenwagen!“
Verzweifelt wollte Andion aufbegehren. Kein Krankenwagen! Genau das war Ogaires Plan. In all den Jahren hatte er vergeblich versucht, ihr Versteck ausfindig zu machen. Nun konnte die Spinne in aller Seelenruhe darauf warten, dass ihr Opfer ihr auf einem Silbertablett direkt ins Maul geschoben wurde. Wahrscheinlich wetzte Ogaire in diesem Augenblick bereits pfeifend sein Messer, mit dem er ihm in wenigen Minuten genüsslich die Kehle durchschneiden würde.
Doch es war zu spät, um das Verhängnis noch abwenden zu können. Eine weitere Welle der Qual ließ Andion haltlos in Mr. Colegraves Arme sacken. Sekunden später verlor er das Bewusstsein.
Reglos wie eine Statue stand Ogaire inmitten des hektischen Treibens der Notaufnahme. Eingehüllt in einen schützenden Zauber, vermochte niemand in der weiten Halle seinen Blick lange genug auf ihn zu richten, um seine schlanke, hochgewachsene Gestalt tatsächlich bewusst wahrzunehmen, und er seinerseits beachtete die Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern um ihn herum nicht mehr, als er einer wimmelnden Ameisenkolonie zu seinen Füßen Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Seine Augen waren allein auf den Eingang gerichtet.
Das Notarztteam, das er losgeschickt hatte, kaum dass der Ruf erklungen war, müsste bald zurück sein – mit seiner kostbaren Fracht. Natürlich hatte er nichts dem Zufall überlassen, und es war vollkommen bedeutungslos, welches der beiden Krankenhäuser Oakwoods der verängstigte Klassenlehrer oder Schulleiter schließlich mit dem Rettungseinsatz beauftragt hatte. Der Krankenwagen des Oakwood General Hospital würde auf jeden Fall als erster am Ort des Geschehens eintreffen, und bis man irgendwann unangenehme Fragen stellen würde, würde längst alles vorbei sein. Geduldig und mit gleichmütiger Miene wartete er darauf, dass die letzte Runde ihres kleinen Spiels begann.
Eine heftige Windböe kündigte wenig später die Ankunft des Krankenwagens an. Der Wind tobte wütend um das Fahrzeug, versuchte verzweifelt, es zu verlangsamen oder irgendwie vom Weg abzubringen, aber alle Bemühungen der Sylphen prallten an dem unsichtbaren Schutzzauber ab, mit dem Ogaire den Wagen vorsorglich versehen hatte. Dieses Mal hatte er nicht den Fehler begangen, die Windgeister zu unterschätzen.
Der Krankenwagen kam mit quietschenden Reifen vor dem Eingang der Notaufnahme zum Stehen. Ogaire straffte seine Gestalt. Er bündelte seinen Willen, und eine Klinge aus loderndem Zorn zischte durch die kochende Luft und ließ die aufgebrachten Sylphen kreischend auseinanderstieben. Ihnen blieb nur, in hilfloser Wut hoch über der Trage am Himmel zu tanzen, die die Sanitäter mit eiligen Handgriffen aus dem Wagen luden, und wimmernd den Namen dessen zu rufen, den sie so verzweifelt zu schützen versuchten.
„Andion! Andion!“
Für den Bruchteil einer Sekunde blickte Ogaire überrascht auf die bleiche, mit ihrem eigenen Blut besudelte Gestalt, die nur wenige Meter von ihm entfernt reglos wie ein Toter in ihren Gurten hing. Andion – Ionosen hätte keinen unpassenderen Namen für seinen Sohn wählen können. Doch was immer sich der Prophet dabei gedacht haben mochte, es bedeutete nichts.
Gelassen trat er den Ankömmlingen entgegen. Die Notärztin wollte ihm Bericht erstatten, doch er ließ sie mit einem einzigen leisen Wort verstummen, beugte den Willen der Menschen, wie es ihm gefiel, und winkte ihnen. Sie folgten ihm wortlos; der Körper, den sie trugen, hätte ebenso gut ein Stück Holz sein können, so viel Beachtung schenkten sie ihm nun noch.
Niemand sah sie vorübergehen, niemand fragte sich, wohin dieser offensichtliche Notfall gebracht wurde; niemand würde sich auch nur daran erinnern können, dass es diese Einlieferung überhaupt gegeben hatte.
Mit dem Fahrstuhl gelangten sie in den dritten Stock des Gebäudes. Dort ließ er Andion in ein Zimmer bringen, das er zuvor eigens für seine Zwecke hatte räumen lassen. Schließlich entließ er das Notfallteam mit einer beiläufigen Geste und blieb allein mit seinem Sohn in dem leeren Raum zurück.
Er fokussierte seinen Willen, gab ihm eine neue Richtung, und seine Magie dehnte sich aus, floss wie Wasser über die Wände, die Decke und den Boden und hüllte sie beide in eine Blase aus knisternder Energie, die in den nächsten Minuten wirkungsvoll dafür sorgen würde, dass kein zufällig
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