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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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vorbeikommender menschlicher Beobachter den Schlussakt ihres kleinen Dramas im entscheidenden Augenblick durch seine Neugier zu stören vermochte. Der konzentrierten Macht eines Elfenpropheten und seiner geballten Wut hatte sein Zauber natürlich nichts entgegenzusetzen; aber das brauchte er auch nicht.
    Mit unbewegter Miene trat Ogaire an das Bett heran, auf dem der reglose Körper seines Sohnes lag, und betrachtete stumm das bleiche, blutverschmierte Gesicht, das noch immer von den Spuren der Qualen gezeichnet war, die ihn in seinem Klassenzimmer hatten zusammenbrechen lassen. Zweifellos, niemand, der noch bei klarem Verstand war, wäre angesichts der Sturzbäche von Blut, die dem Jungen aus allen Körperöffnungen gequollen waren, nicht auf die Idee gekommen, eine Ambulanz zu rufen. Auch der Stoff seines T-Shirts und seiner Hose klebte feucht und rot auf seiner Haut, und sein Atem ging flach und unregelmäßig, schien von Sekunde zu Sekunde weniger Kraft zu besitzen. Ogaire spürte, dass der Tod nun nicht mehr fern war.
    Doch noch lebte er, noch war die Flamme, die in seiner Seele brannte, nicht gänzlich erloschen. Und so würde es – zumindest vorerst – auch bleiben.
    Ogaire trat noch ein wenig näher, beugte sich herab und streckte die Hand aus. Beinahe andächtig strich er mit einem Finger über die Lippen seines Sohnes, tauchte seine Fingerkuppe in das warme, noch nicht gänzlich getrocknete Blut, das sie benetzte, und kostete das Leben, das darin verborgen lag. Er spürte, wie es unter seiner Berührung erbebte, wie die Seele des Jungen selbst in seiner Ohnmacht zitternd vor ihm zurückwich, als wüsste sie, dass die Fortdauer ihrer Existenz nun einzig von seiner Gnade abhängig war.
    Erneut streckte er seine Hand aus und legte sie auf Andions Stirn. Der Körper seines Sohnes bäumte sich auf, als er mit seinem Willen zustieß, seine heilende Kraft mit roher Gewalt in ihn hineinpumpte. In Sekundenschnelle schlossen sich zerrissene Arterien und zerfetzte Gewebe, versiegte der Blutstrom, der sich aus seinen inneren Organen ergoss, schlug sein schwaches, erlöschendes Herz wieder ruhig und gleichmäßig.
    Mit einem leisen Wort wob Ogaire einen weiteren Zauber, der den Jungen auch weiterhin bewusstlos halten würde, dann wandte er sich gleichgültig von ihm ab. Seine Heilung bedeutete nichts, war lediglich eine pure Notwendigkeit gewesen; nur ein letzter Zug seiner Spielfiguren, bevor der finale Schlagabtausch begann. Ohne Zweifel würde sich Andion nach dem heutigen Tag wünschen, er wäre niemals mehr aus seiner Ohnmacht erwacht, doch dieser Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen. Noch würde er seinen Sohn nicht töten; erst musste ein anderer sterben.
    Ogaire trat ein paar Schritte von dem Bett zurück – und wartete.

14. Kapitel

    Zusammen mit dem Erwachen kam die Panik. Sie loderte wie flüssiges Feuer durch seinen Geist, noch ehe der erste zarte Schimmer eines bewussten Gedankens zaghaft in der Dunkelheit glomm, die ihn wie zäher Teer umschlossen hielt, und peitschte ihn jäh aus seiner Bewusstlosigkeit. Mit einem erstickten Keuchen sprengte Andion die Ketten, die ihn banden, zerriss den Morast aus klebriger Schwärze und schlug die Augen auf.
    Er lag lang ausgestreckt auf einem Bett, und der Raum, in dem er sich befand, war zweifellos ein Krankenzimmer. Und er war nicht allein. Ein Mann war bei ihm, stand keine zwei Meter von ihm entfernt am Fenster und blickte reglos hinaus in das düstere graue Zwielicht des Sturms, der wütend um das Gebäude toste.
    Andion hörte die Stimmen der Sylphen im Wind, doch er nahm kaum wahr, dass sie schrill seinen Namen riefen. Voller Grauen starrte er den Fremden an, starrte in den Abgrund aus Kälte und Finsternis, der wie ein hungriger schwarzer Moloch vor ihm aufragte. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er eine Seele berührt, die so grausam, auf eine so entsetzliche Weise fern von jedem Mitgefühl und jeder Menschlichkeit gewesen war. Doch natürlich war der Mann vor ihm kein Mensch. Es war Ogaire – sein Vater.
    Beinahe gelähmt vor Furcht spürte Andion, wie ein Kräuseln durch die eisige Dunkelheit lief, wie sich in der albtraumhaften Schwärze ein uraltes, böses Auge zu öffnen schien und sich mit schauriger Intensität auf ihn richtete, als Ogaire sein Erwachen bemerkte. Einen winzigen Moment lang zuckte Überraschung durch den düsteren Brodem, gefolgt von einem schrecklichen, grauenhaft endgültigen Gefühl der Befriedigung und des Triumphs, dann

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