Wächter des Elfenhains (German Edition)
hereingebrochen waren. Doch diese Zeit hatten sie ihm nicht gegeben, und deshalb lechzte er nun wie ein Verdurstender in der Wüste nach der Labsal, die wie eine qualvolle Fata Morgana vor ihm in der Luft schwebte, schmerzhaft nah und doch so unendlich weit von ihm entfernt, dass er vor Verzweiflung und Gram hätte schreien mögen.
Wie so oft, wenn er sich in stummen Anklagen und Selbstzweifeln erging, ließ er seinen Geist treiben, ließ ihn tiefer und tiefer hinabgleiten in die Dunkelheit und Stille, wo er den lautlosen Atem des Elfenhains in seiner Seele spürte. Er bat, er flehte, er weinte unsichtbare Tränen in der trostlosen Finsternis seiner Kerkermauern, so wie jeden Tag während der letzten vier Wochen. Und dann, als er die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, bekam er plötzlich eine Antwort. Er spürte, wie die Dunkelheit in seinem Inneren sich aufwölbte, wie die sanfte, uralte Wesenheit sich ihm zuwandte, fast als wolle sie eine Hand nach ihm ausstrecken.
Der Ruf! Es war tatsächlich der Ruf! Augenblicklich verschwammen die Konturen des Klassenzimmers, Bäume und Büsche schossen rings um ihn in den plötzlich freien Himmel, und schluchzend vor Glück vernahm er den jubilierenden Chor der Sylphen, der voller Freude seinen Namen sang.
Doch etwas war anders als beim letzten Mal. Die süße Melodie des Hains klang nicht so klar, nicht so hell, schien irgendwie gedämpft, fast als würde sie von einer brutalen Kraft gewaltsam in eine viel zu enge Form gezwungen.
Ruckartig hob Andion den Kopf, spürte tiefer hinein in das zarte, sehnsuchtsvolle Wispern, das aus der Elfenwelt durch seine Seele wehte – und erstarrte. Niemand außer ihm hörte den Ruf; nicht dieses Mal. Ein machtvoller Wille schirmte ihn ab, ein Wille, der so stark und verderbt war, dass er eine Welle würgender Übelkeit über ihn hinwegschwappen ließ.
„Ogaire!“, flüsterte Andion.
Er spürte die widerwärtige Präsenz seines Vaters, nahm sie so deutlich wahr, als stünde er direkt neben ihm. Ogaire griff nach dem Herzen des Hains, quälte es, unterwarf es brutal seinem Willen – und manipulierte den Ruf.
Wie ein schmieriger Film aus Erbrochenem schwamm ein Zauber auf dem sanften Wispern und Raunen der Quelle, zuckte und wand sich wie ein schwarzes, bösartiges Tier – ein Tier, dessen Augen mit einem schrecklichen Hunger auf ihn gerichtet waren. Lange, schleimige Tentakel peitschten suchend umher, verharrten witternd – und schnellten blitzartig wie der Kopf einer Viper auf ihn zu.
Andion sprang mit einem erschrockenen Schrei auf die Füße. Sein Stuhl polterte hinter ihm lautstark zu Boden, und seine kleine magische Blase, mit der er sich der Aufmerksamkeit seiner Lehrer und Mitschüler in den letzten Wochen so erfolgreich entzogen hatte, zerstob ins Nichts, als er verzweifelt versuchte, sich vor Ogaires Angriff zu schützen. Doch der kalte Wille seines Vaters ritt auf den zarten Klängen des Rufs, und den konnte Andion nicht abschirmen. Kein Elf hätte das vermocht.
Ogaires Zauber toste wie eine gewaltige Brandungswelle über ihn hinweg, ließ seinen Geist hilflos durch heiße, klebrige Dunkelheit wirbeln. Andion keuchte erstickt auf, versuchte in Panik, seinen Willen zu bündeln, den grässlichen Zauber irgendwie von sich fernzuhalten. Doch Ogaires Wille war viel zu stark. Er zerschmetterte seine armselige Abwehr wie brüchiges Glas, grub sich wie tausend nadelspitze Zähne in sein Fleisch, ätzte sich wie kochendes Öl in jede Pore.
Andion schrie in höchster Not. Seine Brust, seine Eingeweide, sein ganzer Körper schienen zerreißen zu wollen. Ein plötzlicher Druck baute sich in seiner Kehle auf, er krümmte sich zusammen, würgte, und ein dicker Schwall Blut ergoss sich mit einem übelkeiterregenden Laut auf die Tischplatte und den Boden; gleichzeitig rann es ihm warm aus Nase, Mund und Ohren.
Die wogenden grünen Wipfel der Bäume um ihn herum waren längst verschwunden, dafür sah er verschwommen seine Klassenkameraden, die mit vor Entsetzen bleichen Gesichtern zu ihm herüberstarrten. Wie aus weiter Ferne spürte er, wie er gepackt und an den Schultern geschüttelt wurde.
„Verdammt, McKay, mach bloß keinen Quatsch!“
Mit einer absurden, seltsam losgelösten Befriedigung registrierte Andion, dass zum ersten Mal, seit er ihn kannte, die boshafte Häme vollständig aus Mr. Colegraves Stimme verschwunden und durch ehrliche Sorge ersetzt worden war. Er konnte nicht antworten, hustete, spuckte weiter
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