Wächter des Elfenhains (German Edition)
Entschlossenheit, die sie erfüllte – und er verstand. Die Limonade – sie musste die stärksten K.O.-Tropfen hineingemischt haben, die frei zugänglich waren.
„Mutter“, hauchte er, versuchte noch einmal, sich hoch zu kämpfen, doch vergeblich.
Sie kniete neben ihm auf dem Boden nieder, drehte ihn behutsam auf den Rücken. Er sah die Tränen in ihren Augen und wollte vor Qual und Verzweiflung aufschluchzen, doch seine Stimmbänder gehorchten ihm nicht mehr. Sie hob ihre Hand, strich ihm sanft mit den Fingerkuppen über die Wange.
„Wir können nicht fliehen, Andion. Er würde uns überall finden. Aber das lasse ich nicht zu. Dich wird er nicht so quälen wie mich. Du wirst frei sein, Andion. Endlich frei.“
Sie beugte sich nach vorn, gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Ich liebe dich, mein Sohn.“
Kaum noch bei Bewusstsein sah Andion, wie sie das dicke Sofakissen nahm, das wie üblich auf ihrem Sessel lag. Sie senkte es über sein Gesicht, drückte es ihm auf Nase und Mund. Er versuchte, sich zu wehren, aber er konnte sich kaum noch bewegen, taumelte hilflos am Rande des Abgrunds, der ihn hinabziehen wollte in die Finsternis, hinab in die Kälte und das Vergessen, aus dem es niemals mehr ein Erwachen geben würde. Der Druck wurde stärker, die Luft knapper. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, und bunte Flecke begannen vor seinen Augen zu tanzen. In Panik versuchte er, Atemluft durch das dicke Kissen zu ziehen, doch es gelang ihm nicht. Tödliche Kälte kroch ihm den Rücken herauf, lähmte seine ohnehin schon betäubten Glieder, zerfraß wie Säure seinen ersterbenden Willen. Andion verlor das Bewusstsein.
16. Kapitel
Hämmernde Kopfschmerzen zerrissen die Dunkelheit, peitschten seinen erlöschenden Geist zurück ins Licht. Mit einem jähen Ruck schlug Andion die Augen auf und rang keuchend nach Luft, während Panik und Furcht seinen Puls erneut in die Höhe trieben. Doch das Kissen war fort, lag wie eine stumme Anklage neben ihm auf dem Boden. Dort, wo seine Mutter es festgehalten hatte, zeichneten sich tiefe Abdrücke in dem weichen Stoff ab. Sie musste das Kissen mit aller Kraft auf sein Gesicht gedrückt haben.
Aber wieso hatte sie von ihm abgelassen?
„Mutter?“, krächzte er.
Keine Antwort.
Andion stöhnte leise. Er krümmte sich zusammen, presste die Handballen auf seine schmerzenden Augen, kämpfte verzweifelt gegen die Benommenheit, die ihm noch immer wie Blei in den Gliedern steckte und seine Gedanken in zähen, klebrigen Teer zu verwandeln schien. Schwankend wie ein Betrunkener kam er auf die Füße und blickte suchend umher. Er war allein.
„Mutter?“, rief er noch einmal. Der Klang seiner Stimme kam ihm fremd und unheimlich vor, war rau und heiser wie der einer Mumie, die sich nach tausend Jahren gottlosen Schlafs aus ihrem sandigen Grab befreit hatte und nun röchelnd und gurgelnd auf der Suche nach Menschenfleisch durch die Wüste streifte. Vermutlich war es kein Wunder, dass sie ihm keine Antwort gab. Womöglich hielt sie ihn gar für seinen Vater und versteckte sich gerade deshalb vor ihm. Dann fiel sein Blick auf die Schlafzimmertür seiner Mutter, und eisige Furcht fraß sich in sein Herz. Denn die Tür war geschlossen – etwas, das seine Mutter in all den Jahren ihrer Flucht noch niemals getan hatte.
Ein kalter Hauch schien mit einem Mal durch den Raum zu wehen, und er begann zu zittern.
„Nein!“, flüsterte er. „Bitte nicht. Bitte, bitte nicht!“
Er bemerkte kaum, wie er sich in Bewegung setzte und mit schwerfälligen Schritten auf die Tür zuwankte. Es war so still, so furchtbar still! Selbst das abgehackte Keuchen seines Atems wirkte merkwürdig fern und dumpf, schien wie das Wehklagen verlorener Seelen aus einer anderen Welt in der unbewegten Luft zu schweben.
Als er die Hand auf die Klinke legte, verkrampfte sich alles in ihm, und für einen endlosen Moment stand er reglos, spürte nichts außer dem rasenden Schlagen seines Herzens und der Kälte, die ihn erfüllte, eine Kälte, die sich wie Raureif um seine Gedanken und Gefühle legte, die mit bleichen Totenfingern über ihn hinwegstrich und ihn wie eine verkrüppelte Skulptur aus Eis in der trostlosen Düsternis des Flurs zurückließ. Dann, unendlich langsam, senkte sich sein Arm, und die Tür schwang auf.
Obwohl der Raum wie der Rest der Wohnung in dämmriges Halbdunkel getaucht war, sah er sie sofort. Sie lag auf dem Bett, reglos, mit geschlossenen Augen. Ihre Arme lagen locker neben ihrem
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