Waechter des Labyrinths
in seine Tasche. Gerade noch rechtzeitig. Draußen hörte er Schritte, dann klopfte es an der Tür. Er stand auf und öffnete sie einen Spaltbreit.
«Noch nicht fertig?», fragte Zaal.
«Gleich», erwiderte Edouard.
«Michail will, dass wir uns ein bisschen hinlegen. Morgen müssen wir früh raus.»
«Wieso? Was ist passiert?»
«Wir haben sie geknackt», sagte Zaal stolz. «Du hättest sie sehen sollen. Eine Scheißsauerei. Und es stimmt alles. Was das Vlies angeht, meine ich. Sie hat es gerade bestätigt. Offenbar hat es dieser Knox. Und was noch besser ist, er frühstückt in ein paar Stunden mit ihr. Denkt er jedenfalls.» Er lachte auf. «Arme Sau! Diese Verabredung wird er sein Leben lang bereuen.»
ACHTUNDZWANZIG
I
Es war Morgen. Gaille erwachte, als Iain sie sanft an der Schulter rüttelte. «Zeit, aufzustehen», brummte er.
Sie richtete sich im Schlafsack auf und spähte durch den Eingang des Zeltes. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Umrisse der umliegenden Berge waren nicht mehr schwarz, sondern dunkelgrün und grau. «Jetzt schon?», fragte sie.
«Wir müssen ins Haus hineinkommen.»
Sie wartete, bis er weg war, und kletterte dann aus dem Schlafsack. Es war noch kühl, sodass sie sich schnell anzog. Als sie die Schuhe zugebunden hatte, spürte sie, wie angeschwollen ihr Knöchel war. Doch es hätte schlimmer sein können.
Iain saß an der Dachkante und ließ die Beine hinunterbaumeln. Er hatte eine Seilrolle über der Schulter hängen und ein Stemmeisen in der Hand. Als er sie sah, legte er einen Finger vor den Mund, winkte sie dann zu sich und zeigte auf den Schäferhund, der unten schlief. «Schau dir mal seine Leine an.»
Vorsichtig beugte sich Gaille über die Kante. Im schummrigen Morgenlicht musste sie die Augen zusammenkneifen. Die am Halsband des Hundes eingehakte Leine war mehrere Meter lang; sie führte zu einem in den Boden gehämmerten Metallstift vor dem Eingang des Hauses, sodass er genug Bewegungsfreiheit hatte, um nicht nur die Tür, sondern auch die Seiten des Hauses zu bewachen. Sie trat ein Stück von der Kante weg. «Und?», murmelte sie.
Er hielt Stemmeisen und Seil hoch. «Das habe ich in einem Schuppen gefunden. Damit können wir ihn unschädlich machen.»
«Das ist ein Wachhund!», protestierte sie. «Und er tut doch nur, was von ihm erwartet wird.»
«Ich will ihm ja nicht den Schädel einschlagen», sagte Iain. «Wenn’s nicht sein muss, jedenfalls. Das Stemmeisen ist für die Tür. Aber zuerst müssen wir diesen verfluchten Köter da wegkriegen.»
«Und wie?», fragte sie.
Iain lächelte sie an. «Da kommst du ins Spiel», sagte er.
II
Viktor stand am Waldrand und starrte durch einen Feldstecher auf Ilja Nergadses Schloss. Sein Kopf fühlte sich etwas schwer an; er war nicht mehr der Jüngste, und durchgearbeitete Nächte forderten ihren Tribut.
Als er vor gerade mal fünf Stunden den Durchsuchungsbefehl erhalten hatte, hätte er nie gedacht, alles so schnell organisieren zu können. Doch er hatte die Macht unterschätzt, einen direkten Draht zum Präsidentenpalast zu haben. Er hatte vergessen, wozu Spezialkräfte in der Lage waren, wenn sie zu etwas entschlossen waren.
Im Morgenlicht sah das Schloss unglaublich romantisch aus, es wirkte wie eine Filmkulisse. Die Zugbrücke war hochgezogen, und außer ein paar Wachen, die auf den Mauern ihre Runden drehten, war niemand zu sehen. In den kleinen Tälern ringsherum hingen Nebelschwaden über den Wiesen. Auf dem See schwammen wilde Schwäne, und in der Ferne war ein Wiedehopf zu hören. Eine friedlichere Szenerie war kaum vorstellbar.
Doch damit war es bald vorbei.
Es gab bestimmte Methoden, um so mächtige Menschen wie Ilja Nergadse zu ruinieren. Demütigung war eine davon. Wenn man sie bei etwas Unanständigem filmte, waren sie politisch erledigt. Das war anfangs sein Plan gewesen. Iljas Vorliebe für kleine Jungen war bestens bekannt, allerdings war es leichter gesagt als getan, das per Filmmaterial auch zu beweisen. Aber Viktors Interesse hatte nicht nur darin bestanden, Ilja fertigzumachen. Er wollte seine gesamte Brut auslöschen und ihnen jede Möglichkeit nehmen, sich zu rächen. Daher hatte er sich andere Methoden überlegt. Seit Wochen nun waren er und seine Leute bereit. Sie hatten nur noch einen Vorwand gebraucht.
Nikortsminda war die Festung der Nergadses. Aber dadurch wurde der Ort auch zu ihrem Schwachpunkt. Hier glaubten sie sich sicher und unbezwingbar. Aus diesem Grund
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