Waechter des Labyrinths
sich irren.»
III
Edouard lief im Erdgeschoss auf und ab. Nadjas Schreie fuhren wie Stromstöße durch seinen Körper. Er war ein Feigling. Das wusste er jetzt mit Sicherheit. Natürlich hatte er es immer vermutet, auch wenn er sich manchmal gerne als einen jener ruhigen, zurückhaltenden Männer gesehen hatte, deren Heldentum erst in der Stunde der größten Not zum Vorschein kam. Aber diese Stunde war jetzt, und von Heldentum war bei ihm nichts zu bemerken.
Sie schrie wieder. Er fühlte mit ihr und hätte mit jedem Menschen mitgefühlt, der solche Schmerzen ertragen musste. Wie lange konnte das noch weitergehen? Ihre Schreie gingen in Schluchzen und Flehen über. Er wusste nicht, was schlimmer war. Nur eines war sicher: Es war besser, hier unten zuzuhören, als oben zu sein und die Schmerzen am eigenen Leib zu spüren zu bekommen.
Seltsamerweise war er vorhin noch mutig gewesen, obwohl das natürlich vor Beginn der Folter gewesen war. Nachdem der Laufbursche das Handy gebracht hatte, war Michail hereingekommen, hatte es auf die Lehne des Sofas gelegt und dann dort vergessen. Völlig versessen darauf, etwas für seine Familie zu tun, hatte Edouard es eingesteckt und war damit auf die Toilette gegangen. Er hatte seinem Bruder eine SMS geschickt und um die Kontaktnummer seines Freundes Viktor gebeten. Schnell hatte er jedoch Angst bekommen, dass Michail das Handy vermissen würde. Daher hatte er es auf dem Sofa direkt neben der Lehne versteckt, wo man es nur finden würde, wenn man danach suchte, wo es aber zufällig hätte hinfallen können.
Die Schlafzimmertür ging auf. Zaal kam heraus und beugte sich über das Geländer. «Hey!», rief er. «Herr Nergadse will eine Flasche Wodka und ein paar Gläser.»
Edouard schaute ihn fassungslos an. «Sie wollen, dass ich hochkomme?»
«Es sei denn, du kannst das Zeug herzaubern.» Die Tür wurde wieder geschlossen. Edouard ging in die Küche, nahm eine volle Flasche aus dem Kühlschrank und fand Gläser im Schrank. Wieder erschütterte ein Schrei das Haus. Er schloss die Augen und wartete, bis es still wurde. In was war er da nur reingeraten? Dafür konnte es keine Entschuldigung geben, keine Buße. Es würde ihn sein Leben lang verfolgen.
«Wird auch Zeit», knurrte Zaal, als Edouard den Wodka brachte. «Diese Arbeit macht durstig.»
«Stellen Sie die Flasche auf die Frisierkommode», sagte Michail.
Ohne dass er es wollte, wanderte Edouards Blick zu Nadja. Ihr Gesicht war kreideweiß und tränenüberströmt, ihr Kinn und ihre Brust mit Erbrochenem bedeckt. Als er den Geruch wahrnahm und gleichzeitig ihre Hand sah, wurde ihm schlecht. Er ließ die Gläser und den Wodka fallen, drehte sich um und lief hinaus in den Flur. Er rannte zum nächsten Bad, aber er war nicht schnell genug und erbrach sich auf den Boden und den Toilettensitz. Er musste ein zweites und dann ein drittes Mal würgen. Das Erbrochene tropfte ihm vom Kinn auf die Kleidung. Mit dem Handrücken wischte er sich den Mund ab.
Hinter sich hörte er Gelächter. Als er sich umdrehte, sah er Michail und Zaal in der Tür stehen. «Mein Gott, stinkt das», sagte Michail.
Edouard fühlte sich schwach und benommen, aber er stemmte sich trotzdem hoch. «Ich bin für so etwas nicht geeignet.»
«Machen Sie das sauber hier. Und sich auch.» Michail schüttelte den Kopf. «Sie sollten mehr Selbstachtung haben.»
Sich zu übergeben hatte Edouard zwar erschöpft, es hatte ihm aber auch einen klaren Kopf verschafft und seiner Angst die Heftigkeit genommen. Beinahe verwundert bemerkte er, dass er sich zumindest in diesem Moment von allen Ängsten befreit fühlte. War es das, was Mut ausmachte? ,fragte er sich. Keine Angst zu haben? Als er dastand, rechnete er damit, dass das Gefühl ihn wieder verließ, aber das geschah nicht. Dann ging er hinunter in die Küche, um Eimer und Wischlappen zu holen, und steckte sich dabei wie zur Probe heimlich das Handy in die Tasche. Nachdem er wieder oben war, schloss er sich im Bad ein und drehte die Wasserhähne über dem Waschbecken auf. Er fröstelte, seine Brust schnürte sich zusammen, ein Schauer lief ihm über den Rücken – viel Zeit hatte er nicht. Jetzt oder nie.
Er schaltete das Handy ein und presste es gegen seine Brust, um die Startmelodie zu dämpfen. Sein Bruder hatte ihm die gewünschte Nummer geschickt. Das Handy hatte eine Prepaid-Karte und kaum ausreichend Guthaben für Ortsgespräche, geschweige denn für internationale. Aber er kannte den Code seiner
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