Waechter des Labyrinths
Konferenz sprechen wollen, weil er Angst vor der Entlarvung hatte, sondern weil er durch und durch Archäologe war und erkannt hatte, dass es hinter dieser Wand Dinge zu entdecken gab, die eine solche Bedeutung besaßen, dass er nicht allein weitermachen durfte. Daher hatte er aufgehört.
Gaille hörte Schritte und schweren Atem. Als sie sich umdrehte, sah sie Michail am anderen Ende des Gangs auftauchen. Sein Hemd war zerrissen und sein kräftiger, mit Tätowierungen übersäter Oberkörper entblößt. Er hatte das Messer in der Hand und sich die Jagdflinte über die Schulter gehängt. Gaille kletterte die Leiter hinunter, aber es gab nirgendwo einen Fluchtweg oder ein Versteck. Michail hatte bemerkt, dass sie in der Falle saß, und schlenderte ohne Eile auf sie zu. Sie bückte sich nach einem scharfkantigen, schweren Stein und versteckte ihn hinter dem Rücken. Er hatte die Treppe erreicht und steckte sich das Messer hinter den Gürtel. Sie wartete, bis er nah genug war, und wollte ihm den Stein an den Kopf werfen, doch damit hatte er wohl gerechnet. Er packte sie mühelos am Handgelenk und verdrehte es, sodass sie aufschrie und den Stein fallen ließ. Er griff ihr ins Haar und zog sie brutal zur Seite, bis sie das Gleichgewicht verlor, dann schleuderte er sie auf den Boden des Gangs, trat ihr in den Rücken und stellte sich mit den Füßen auf ihre Handgelenke.
«Bitte», flehte sie. «Lassen Sie mich gehen.»
Aber er lachte nur, als hätte sie einen Witz gemacht. «Darauf habe ich mich gefreut», sagte er und fasste sich zwischen die Beine. «Ich habe deinem Freund mein Wort gegeben, und ich halte mein Wort immer.»
Das Lampenlicht flackerte, als würde dem Generator der Sprit ausgehen. Im Gang waren Geräusche zu hören. Als Gaille den Kopf zur Seite drehte, sah sie am anderen Ende des Gangs eine dritte Person auftauchen, den Vorschlaghammer in der Hand.
«Sie!», rief Michail wütend.
«Ja», meinte Knox. «Ich.»
II
Für das Personal der Intensivstation war es ein durchwachsener Morgen gewesen. Ein Patient war gestorben, ein anderer war in eine normale Abteilung verlegt worden. Da die Station, abgesehen von Augustin, nun leer war und nur zwei Schwestern Dienst hatten, zog Claire den Kopfhörer aus dem DVD-Player, den Nico am Tag zuvor gebracht hatte.
Am Abend hatte sie sich die Aufnahme nicht mehr angeschaut, ihr war einfach zu viel durch den Kopf gegangen. Doch am Morgen hatte sie die DVD bereits zweimal abgespielt. Claire war gefesselt gewesen, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. An den Worten hatte es nicht gelegen, obwohl sie aus Augustins Feder stammten, denn der Fachjargon und die ihr unbekannten Bezüge waren ihr größtenteils zu hoch gewesen. Es hatte eher etwas damit zu tun gehabt, wie Knox trotz seines anderen Akzents irgendwie Augustins Sprachduktus widergespiegelt hatte, wie er seinen Tonfall, seinen Rhythmus, seine Art, Spannung aufzubauen und Pointen zu setzen, nachempfunden hatte.
Als dieses Unglück über Augustin hereingebrochen war, hatte eine verräterische innere Stimme Claire eingeflüstert, dass sie keineswegs verpflichtet war, bei ihm zu bleiben, so wie sie damals bei ihrem Vater geblieben war. Schließlich war er kein Blutsverwandter, ja, sie waren nicht einmal verheiratet. Sie hätte einfach zurück nach Amerika fliegen und so tun können, als wäre diese Episode nie geschehen. Aber jetzt wusste sie, dass es völlig unmöglich war. Wenn man sein Herz voll und ganz einem anderen Menschen geschenkt hatte, konnte man es nicht einfach wieder zurücknehmen.
Auf der DVD näherte sich Knox dem Ende des Vortrags. Sie stellte den Ton lauter. Es war zwar ein Trost, Augustins Worten zu lauschen, doch was sie wirklich genoss, war der außerordentliche Beifall, mit dem sie aufgenommen wurden und dem Mann Anerkennung zollten, den sie liebte. An diesem Punkt der Aufnahme wurde ihr jedes Mal warm ums Herz.
Augustins linkes Augenlid flatterte. Obwohl das eines der wenigen Lebenszeichen war, die er bisher gezeigt hatte, machte ihr das keine allzu großen Hoffnungen. Am Abend zuvor hatten die Ärzte die Barbiturate abgesetzt, damit er aus dem künstlichen Koma aufwachte, sie hatte jedoch genug Erfahrung mit Patienten auf der Intensivstation, um zu wissen, dass solche Tics jederzeit auftreten konnten.
Trotzdem beugte sie sich etwas näher, flüsterte seinen Namen und drückte seine Hand. Sein Augenlid flatterte erneut, öffnete sich dann blinzelnd und schloss sich wieder. Sie
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