Waechter des Labyrinths
klopfte er erneut. Immer noch nichts. Er ging vorsichtig hinein und gelangte in ein riesiges, offenes Atrium, das sich über zwei Stockwerke erstreckte und eine herrliche Glaskuppel hatte, durch die er den Nachthimmel sehen konnte. Links befand sich eine in Weiß gehaltene Küche, in der Chrom funkelte, rechts ein polierter Esstisch und Stühle aus Mahagoni. Geradeaus standen in einem Halbkreis schwarze Ledersofas und Sessel vor einem riesigen Plasmafernseher, auf dem stumm ein Nachrichtensender lief. Auf beiden Seiten führten Marmortreppen zu einem offenen Gang in der ersten Etage, der das Atrium wie ein Gürtel umschloss. Zahllose Türen gingen davon ab, vermutlich zu Schlafzimmern und Bädern.
«Hallo!», rief er. «Ist jemand zu Hause?» Da die Musik ihn übertönte, ging er weiter in Richtung Stereoanlage. Auf einem gläsernen Couchtisch sah er die Reste einer Feier: zwei leere Champagnerflaschen, ein paar Pralinenschachteln, ein überquellender Aschenbecher und eine lackierte Schatulle, die er sofort schloss, damit er sich vormachen konnte, er hätte das weiße Pulver darin nicht gesehen. Auf dem Boden verstreut lagen ein Rock, eine zerrissene weiße Bluse, ein weißer Schlüpfer und ein blauer Sport-BH. Er fand mehrere Fernbedienungen, auf denen er die Stummschalter drückte, bis endlich Ruhe herrschte. «Hallo!», rief er wieder. «Jemand zu Hause?»
Oben ging eine Tür auf, und ein Mann trat heraus. Bis auf ein um die Hüfte geschlungenes, safrangelbes Handtuch war er nackt. Oberkörper und Arme waren schlank und muskulös wie bei einem Mittelgewichtsboxer. Auf dem rechten Oberarm hatte er eine grobe Gefängnistätowierung. Eindeutig ein Nergadse, was Edouard teilweise an der typisch breiten Nase und der hohen Stirn erkannte, teilweise an dem stolzen Gang. Vor allem aber erkannte er es an der ruhigen, zugleich entschlossenen Art, mit der er eine abgesägte Schrotflinte auf Edouards Gesicht richtete.
II
«Was reden Sie denn da, verdammt?», wollte Knox wütend wissen. «Augustin hat Petitier auf keinen Fall getötet.»
Nico hob beschwichtigend die Hand. «Sie haben mich falsch verstanden», sagte er. «Das habe ich auch nicht behauptet. Ich sage nur, dass die Polizei ein Motiv finden könnte.» Er drehte sich noch weiter auf seinem Sitz herum, so weit, wie es sein massiger, zwischen Tür und Handbremse eingeklemmter Körper erlaubte. «Wissen Sie, weshalb ich Petitier die Möglichkeit gegeben habe, an der Konferenz teilzunehmen?»
«Nein.»
«Ursprünglich wollte ich selbst einen Vortrag halten, aber ich habe ihm den Platz überlassen. Was mir nicht leichtfiel, das versichere ich Ihnen. Ich rede gerne.» Er musste über sich selbst schmunzeln. «Ehrlich gesagt, ist das einer der Gründe, warum ich diese Konferenzen organisiere, denn mich lädt sonst niemand ein. Aber dieses Mal hatte ich einen guten Grund zu verzichten. Vor ungefähr sechs Wochen erhielt ich eine E-Mail von Petitier, in der er ziemlich arrogant verlangte, dass ich ihn auf der Konferenz sprechen lasse. Ich konnte mich kaum an ihn erinnern, obwohl er früher viel mit einem meiner Uni-Kollegen zu tun hatte.»
«Und?»
«Ich dankte ihm für sein Interesse, sagte ihm aber, dass das Programm bereits feststeht. Was natürlich stimmte; solche Dinge werden Monate im Voraus geplant. Ich sagte ihm, er könne gerne kommen und bei einer unserer Arbeitsgruppen sprechen. Das genügte ihm aber nicht. Er versicherte mir, dass ich es nicht bereuen würde, denn er hätte der Welt etwas Außerordentliches mitzuteilen. Als ich ihn danach fragte, wollte er mir nichts Genaueres sagen. Ich nahm an, nichts mehr von ihm zu hören. Auf Konferenzen laufen immer eine Menge Spinner rum, die davon überzeugt sind, alle Rätsel der Antike gelöst zu haben. Doch dann traf in meinem Büro ein Paket ein. Eine Notiz von Petitier, dazu zehn in Watte verpackte Siegel und Stempelfragmente mit Inschriften in den Silbenschriften Linear A und Linear B. Da das überhaupt nicht zu meinem Fachgebiet gehört, habe ich Fotos gemacht und sie per E-Mail herumgeschickt, denn wenn diese Fragmente bereits irgendwo erfasst gewesen wären, hätte der eine oder andere meiner Kollegen sie sicherlich erkannt. Aber dem war nicht so. Es sah also danach aus, als hätte Petitier immerhin ein paar neue Siegel entdeckt, und das wahrscheinlich an einer bedeutenden Stätte.»
«Trotzdem», warf Knox ein. «Das verdient kaum eine Plattform auf einer solchen Konferenz.»
«Nein», stimmte Nico
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