Waechter des Labyrinths
tektonischen Verschiebung, und diese Schluchten sind die Stellen, wo die Erdkruste unter dem ganzen Druck platzt.»
«So als würde man ein Baguette durchbrechen?», meinte Gaille.
«Wenn du so willst.»
Die Straße schlängelte sich weiter. An die steilen Hänge klammerten sich Häuser, verbissen wie Bergsteiger, die ihre Fähigkeiten überschätzt hatten und erfroren waren. Die Straßen waren schmal und in schlechtem Zustand, daher war es ein Segen, dass nur wenig Verkehr herrschte. Sie erreichten die Küstenebene, passierten den ruhigen Urlaubsort Frangokastello und die Hafenbucht von Chora Sfakion, ehe sie eine extrem steile Küstenstraße erklommen. Die Haarnadelkurven wurden mit jeder Serpentine enger. Jetzt wurde Gaille richtig schwindlig, und sie verkrampfte sich. Iain dagegen schien die Höhe überhaupt nichts auszumachen, er nahm die Kurven selbst dann noch mit aller Seelenruhe, als die Reifen auf dem staubigen Asphalt wegrutschten und sie der Kante gefährlich nahe kamen. «Entschuldige», bat Gaille und klammerte sich am Türgriff fest, «aber ich habe Höhenangst.»
«Keine Sorge», versicherte er ihr. «Ich fahre ständig über diese Straßen.»
«Bitte», sagte sie.
Erst jetzt bemerkte er, wie ernst es ihr war. Er nahm den Fuß vom Gas und schwenkte vom Abhang weg. Sie waren bereits so hoch, dass die bunten Häuser und Boote von Chora Sfakion an der zerklüfteten Küstenlinie unter ihnen wie Spielzeuge aussahen. Das Meer war tiefblau wie das Gefieder eines Papageis. Dann endete die befestigte Straße plötzlich, und sie gelangten auf einen Abschnitt aus rohem Felsstein. Ein Kipplader voll mit Asphalt preschte rücksichtslos schnell um die Kurve vor ihnen und zwang sie so weit nach außen, dass Gaille unter sich nichts als gähnende Tiefe sehen konnte. Heißer Staub fegte durch die offenen Fenster, sodass sie beide zu husten begannen. Und es ging höher und höher, bis Gaille es nicht mehr aushielt, sich einfach zurücklehnte und die Augen schloss.
«Okay», sagte Iain schließlich. «Wir sind durch.»
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie zu beiden Seiten Berge. Ohne die Gefahr, in die Tiefe zu stürzen, verflog sofort ihr Schwindelgefühl, auch wenn ihr immer noch etwas mulmig war. Dann kamen sie in eine kleine Stadt mit einem ruhigen und friedlichen Platz. «Anopolis», sagte Iain und hielt vor einem Laden an. «Ich gehe rein und frage nach Petitier. Bleib einfach hier. Bei Fremden sind die Leute meistens ein bisschen verschlossen.»
«Du bist doch auch ein Fremder.»
«Ich lebe seit zehn Jahren hier, ich spreche die Sprache. Das hilft, glaub mir.»
Sie war noch immer zu mitgenommen von der Fahrt, um etwas dagegen zu sagen. Sie schaute sich im Spiegel an, wischte sich den Staub aus dem Gesicht, glättete ihr Haar und stieg aus. Es war eine angenehme Stadt, einer dieser Orte, in denen seit Jahrhunderten ein paar Familien ihre Felder bestellten und wo man auf dem Friedhof immer die gleichen Nachnamen lesen würde. Neben dem Laden befand sich ein Café, dessen Glastüren weit geöffnet waren. Sie schlenderte hinüber. In einem Käfig zwitscherte ein Kanarienvogel. An die Wände waren Ziegenhäute gespannt. Ein ausgestopfter Adler sah aus, als wollte er jeden Moment losfliegen. Vor einem dickbäuchigen Ofen lagen Holzscheite aufgestapelt, an einem Tisch daneben spielten vier Männer Karten. Drei von ihnen schauten sie mit freundlicher Gleichgültigkeit an, während der vierte ihr mit seinem Glas zuprostete. Sie lächelte und ging zurück zum Wagen.
Fünf Minuten später kam Iain mit zwei weißen Plastiktüten voller Einkäufe aus dem Laden. «Musstest du für die Auskünfte zahlen?», fragte sie, als er die Tüten im Kofferraum verstaute.
«Es war jeden Cent wert», versicherte er ihr. «Die Frau hat Petitier auf dem Foto sofort erkannt. Er kommt einmal im Monat her, um Vorräte zu kaufen.»
«Und? Hat sie dir gesagt, wo er wohnt?»
«Ja», meinte er grinsend. «Hat sie.»
II
Unter anderen Umständen hätte es Edouard bestimmt genossen, in einem Café in Eleusis seinen Kaffee zu trinken. Schließlich war es ein herrlicher Morgen, im Ort tummelten sich einheimische Familien, die die frische Frühlingssonne aus ihren Häusern gelockt hatte. Doch er knabberte noch daran, was ihm seine Frau während des kurzen Gesprächs verklausuliert mitgeteilt hatte, und überlegte verzweifelt, welche Möglichkeiten ihm blieben, um …
«Hey, Chef», sagte Zaal zu Michail und zeigte über den
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