Waechter des Labyrinths
untereinander, oder war es, wie ich glaube und argumentiere, wesentlich vermischter und homogener, als es die meisten Wissenschaftler heute behaupten?»
«Trotz aller archäologischen Berichte?»
«Ganz im Gegenteil. Genau deshalb . Es gibt Unmengen von Beweisen, die meine Sichtweise stützen. Und wenn es doch Unterschiede gibt, dann sind es lediglich solche, die auf der Hand liegen. Nimm zum Beispiel Kreta und Ägypten. Oberflächlich betrachtet wirken ihre Religionen und Kulturen absolut verschieden. Oberflächlich betrachtet könnten die einen niemals aus den anderen hervorgegangen sein, ja nicht einmal etwas übernommen haben. Dabei vergessen wir jedoch, wie sehr unsere Religionen von unserer Umwelt bestimmt sind. Stell dir nur einmal vor, du würdest …» Ihm war ein Stein heruntergefallen, den er leise fluchend wieder aufhob. «Stell dir vor, du lebst am Rand eines aktiven Vulkans. Dann würdest du doch wohl andere Götter anbeten als jemand, der am Ufer eines Flusses wie des Nils lebt, das einmal im Jahr überschwemmt wird, oder?»
«Selbstverständlich.»
«Ägyptische Priester haben sich ziemlich viel Mühe gemacht, die jährliche Umlaufbahn des Sirius zu berechnen, denn das Aufziehen von Sirius sagte die Überschwemmung vorher, den natürlichen Beginn des ägyptischen Jahres. Für die Minoer dagegen gab es weder einen Grund, ihr Jahr mit Sirius zu beginnen noch ihn als besonders wichtigen Stern zu behandeln. Trotzdem taten sie es. Und Sirius hat es als Bedeutungsträger nicht nur bis Kreta geschafft, er wurde durch die Eleusinischen Mysterien ein wesentlicher Bestandteil der griechischen Religion.»
«Worauf willst du hinaus?»
«Also, nehmen wir mal an, dass ein paar unternehmungslustige Ägypter hierhergekommen sind, um, sagen wir, einen Handelsposten zu errichten. Schließlich war Kreta das Zentrum der mediterranen Welt. Bestimmt hätten sie, wie Menschen das eben tun, ihre Religion und Mythologie dorthin mitgebracht. Aber wie lange hätte es gedauert, bis sie ihre Fluss- und Sonnengötter gegen Erdbeben- und Vulkangötter ausgetauscht hätten?» Dunklen Schatten gleich flatterten zwei Fledermäuse über das Dach und schlugen auf der Jagd nach Fliegen ein paar Haken in der Luft, ehe sie so schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. «Der Thera war lange vor seiner endgültigen Eruption aktiv», fuhr Iain fort. «Die Experten sind sich darin einig, dass es regelmäßig kleinere Ausbrüche gab. Das wird mit Sicherheit ein wesentlicher Faktor in der minoischen Kosmologie gewesen sein. Was hältst du davon: Als Persephone während der Eleusinischen Mysterien von Hades entführt wurde, war ein blendendes Licht zu sehen und ein Geräusch zu hören, als würde die Erde aufbrechen. Erinnert dich das an etwas?»
Der Gedanke überraschte Gaille, und sie setzte sich etwas aufrechter hin. «Willst du etwa behaupten, dass in Eleusis der Ausbruch des Thera gefeiert wurde?»
«Warum nicht? Nachdem Persephone entführt wurde, verfluchte ihre Mutter Demeter die Erde und machte sie unfruchtbar, so besagt es der Mythos. Und dabei handelte es sich nicht um einen ungewöhnlich langen Winter, nein, es folgte eine Hungersnot, die eindeutig viele Jahre andauerte. Doch als Demeter Persephone schließlich zurückbekam, machte sie die Erde reichhaltiger denn je.» Wieder fiel ihm ein Stein aus der Hand, doch da er ihn dieses Mal nicht finden konnte, warf er die anderen verärgert weg. «Vulkanische Asche ist ungeheuer nitrathaltig. Deswegen leben Menschen in der Nähe von Vulkanen, obwohl es so gefährlich ist. Fahr mal nach Bali, wenn du mir nicht glaubst. So ein üppiges Grün hast du noch nicht gesehen. Jedes Mal also, wenn der Thera eine kleinere Eruption hatte, wurden die umliegenden Inseln mit Asche bedeckt und die Ernte von mindestens einem Jahr zerstört, vielleicht sogar von zwei oder drei Jahren. Aber wenn die Felder danach wieder Früchte trugen, wird die Ernte gewaltig gewesen sein. Genauso wie in den Eleusinischen Mysterien. Jedenfalls bis zum großen Ausbruch.»
«Kannst du dir vorstellen, wie das gewesen sein muss?», meinte Gaille lächelnd und lehnte den Kopf gegen das Steingeländer. «Auf Kreta gewesen zu sein, als der Thera plötzlich ausgebrochen ist?»
«Man hätte bei dem spektakulärsten Ereignis der Menschheitsgeschichte in der ersten Reihe gesessen», sagte Iain nickend. «Eine Explosion, die buchstäblich die Welt erschüttert hat. In den Tagen danach sind Hunderte Kubikkilometer
Weitere Kostenlose Bücher