Waechter des Labyrinths
Familien sah.
Damals war sie erst drei Wochen bei der Zeitung gewesen. Der Verleger hatte sie von einem Modemagazin abgeworben, weil er seinem Blatt unbedingt zu mehr Sexappeal verhelfen wollte. Albert war nach einem zermürbenden Monat gerade aus Mingrelien zurückgekehrt, wo er über den Bürgerkrieg berichtet hatte – nur um zu erfahren, dass sein tiefgründiger Bericht über den Tod von Gamsachurdia radikal gekürzt worden war, um mehr Platz für ihren Beitrag über Bademode zu haben. Er und der Redakteur hatten deswegen lautstark gestritten. «Na klar», hatte Albert gebrüllt. «Warum nicht, verdammte Scheiße? Unser Land bricht vor unseren Augen zusammen, also lass uns über Bikinis berichten!»
Sie war gekränkt und wütend gewesen, vor allem aber wütend. Sie war zu seinem Schreibtisch gegangen, um seinen Artikel zu lesen und ihn in der Luft zu zerreißen, damit sie sich wieder besser fühlen konnte. Doch schon nach zwei Absätzen zog seine Geschichte sie vollkommen in den Bann. Bis dahin hatte sie es möglichst vermieden, etwas über den Krieg zu lesen. Sie fand es einfach zu bedrückend. Daher war das meiste neu für sie. Und die ungeheuerlichen Dinge, die in ihrem Land geschahen, die Gräueltaten, die Georgier anderen Georgiern antaten, entsetzten sie zutiefst. Als sie fertiggelesen hatte, hatte sie gespürt, dass jemand hinter ihr stand.
«Sie sind das also?», hatte er gebrummt. «Sie sind diejenige, die über Bikinis schreibt?»
Als sie sich zu ihm umdrehte, hatte sie damit gerechnet, dass er sie zusammenstauchen würde, und sie hatte das Gefühl gehabt, es verdient zu haben. Doch ihm war nicht entgangen, dass sie Tränen in den Augen hatte, und er war ruhig geworden. Welcher Mann konnte einer schönen Frau böse sein, die über das weinte, was er geschrieben hatte? Das hatte er ihr jedenfalls gesagt, als er am nächsten Morgen zu ihr kam und sich eine Zigarette nahm. Heldenverehrung auf ihrer Seite, Lust auf seiner: Nicht das beste Rezept für einen Hochzeitskuchen. Und doch hatten sie trotz des Altersunterschieds etwas Dauerhaftes und Kostbares daraus gemacht.
Da er nie davor zurückgeschreckt war, die Fragen zu stellen, die andere lieber vermieden, oder schonungslos über brutale Verbrechen und ihre Drahtzieher zu schreiben, hatten beide immer gewusst, dass der Tag der Abrechnung irgendwann kommen könnte. Als sie eines Abends gemeinsam von der Arbeit nach Hause kamen, hatte ihnen ein Mann mit einer tief in die Stirn gezogenen Baseballkappe und vermummtem Gesicht aufgelauert. Er hatte gewartet, bis sie die Tür geöffnet hatten, war dann aus der Dunkelheit hervorgestürzt, hatte Albert von hinten ins Haus gestoßen und die Tür zugeknallt.
Wie es Alberts Art war, hatte er sich sofort aufrappeln und wehren wollen. Dabei hatte er ihr zugerufen, wegzulaufen. Doch der Mann hatte zweimal auf Albert eingestochen, einmal in den Bauch, dann genau ins Herz. Er hatte die Klinge an Alberts Ärmel abgewischt, in aller Ruhe seine Taschen durchsucht und war dann mit Alberts Brieftasche aufgestanden und auf sie zugekommen. Sie hatte schreien wollen, doch keinen Ton rausgebracht. Sie war nur zurück an die Wand gewichen. Der Mann hatte ihr mit einer Hand das Messer an den Hals gedrückt, während er mit der anderen von ihrer Brust über den Bauch hinunter zwischen ihre Beine gefahren war, wo er sie auf die widerlichste Weise berührt hatte. Seine Finger hatten zugedrückt, als würde er eine Frucht auf ihre Frische überprüfen. Und obwohl sein Gesicht zum größten Teil durch die Kappe und ein Tuch verdeckt gewesen war, hatten sich seine eisblauen Augen für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Die Polizei hatte nicht an einen gezielten Anschlag geglaubt. Tiflis sei ein gefährlicher Ort, wurde ihr gesagt, Raubüberfälle und Einbrüche gehörten zur Tagesordnung. Eine Woche später hatte sie eine Fehlgeburt erlitten – dass sie schwanger gewesen war, hatte sie selbst nicht gewusst. Es war wenig überraschend, dass sie sich danach kaum noch für Mode interessierte. Als die Zeitung sich geweigert hatte, die Ermittlungen zum Mord an Albert mit allen Mitteln voranzutreiben, hatte sie ihren Job hingeschmissen. Sie war freie Journalistin geworden, sodass sie genug Zeit hatte, sich selbst darum zu kümmern. Bei der Aufklärung des Mordes war sie keinen Schritt vorangekommen, doch während ihrer Ermittlungen hatte sie eine Menge anderer Dinge aufgedeckt. Und da das meiste davon den Zeitungen für eine
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