Wächter des Mythos (German Edition)
man kann den Maßstab ja auch bei den Ärmsten unter den Reichen ansetzten. Aber wie steht es mit Ihnen?«, fragte Alina amüsiert. »Sind Sie zum Beispiel gehorsam?«
»Pflichtbewusst, ja«, sagte er, »doch ich bin dem Katechismus nicht blind ergeben.«
»Sie sind Priester!«
»Na ja, doch ich neige zu sehr eigenen Vorstellungen – über das Leben, den Tod und über die Rolle, die wir in dieser Welt spielen.«
»Wie steht es mit der Armut? Sie sind besser gekleidet als die anderen Geistlichen, die ich bisher gesehen habe.«
»Dazu verpflichtet mich meine Rolle im Dienst der Kirche. Ich bin vom Auswärtigen Amt und bewege mich in diplomatischen Kreisen. Betrachten Sie es als eine Art Uniform.«
»Ich verstehe …« Alina beugte sich über ihr Weinglas, sodass ihre Seidenbluse die Bar berührte. Im Ausschnitt zeichnete sich ihre üppige, braune Brust ab, die im Kontrast zum harten Holz der Theke noch weicher wirkte. Sekundenlang nahm Sandino dieser Anblick gefangen. Er würde mehr als eine kalte Dusche benötigen, um das zu vergessen.
»Und«, fragte Alina unschuldig. »Was ist mit dem letzten Ihrer drei Gelübde? Was halten Sie von Keuschheit?«
In einem ungünstigeren Moment hätte diese Frage gar nicht kommen können. Sandino starrte auf sein Wasserglas, bemüht, kühles Blut zu bewahren.
»Für mich ist das eine Frage der Disziplin, die bekanntermaßen in vielen Religionen gepflegt wird«, gab er ihr distanziert zur Antwort und verlangte nach der Rechnung.
In seinem Umfeld war dieses Thema tabu und vom Begriff der Sünde beherrscht. Dennoch verwirrte ihn seine Reaktion. Er hatte im Allgemeinen eine aufgeklärtere Einstellung zur Sexualität als der Großteil seiner Kollegen, die sich vom frauenfeindlichen Bild der Kirche beeinflussen ließen. Sandino war Alina gedankenvoll zum Wagen gefolgt und hatte schweigend neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Sie blickte nachdenklich auf die vor ihnen liegende Straße.
»Es ist das Beste, wir fahren jetzt direkt nach Cebreiro«, beschloss Alina in aller Seelenruhe, ohne den Blick von der Straße zu lassen.
»Wie bitte?«, fragte er verständnislos.
»Wir fahren jetzt zum Blutwunder nach O’Cebreiro!«, wiederholte sie in aller Gelassenheit.
»Nach Spanien?«
»Wo immer dieses Nest auch liegen mag«, antwortete sie ihm mit einem kecken Lächeln in den Mundwinkeln. »Wir pilgern mit dem Auto zum Blutwunder nach Spanien, so wie es heutzutage Trend ist.«
Für einen Moment verschlug es Sandino die Sprache, dann erwiderte er zögerlich: »Gegen eine kleine Pilgerfahrt habe ich nichts einzuwenden, aber was ist mit meinem Mietwagen?«
Alina begann zu lachen, was seine Verunsicherung steigerte.
»Das ist nicht lustig«, beschwerte er sich, stimmte dann aber in ihr Lachen ein. Seine Anspannung ließ merklich nach.
»Sie brauchen doch nur jemanden zu beauftragen, ihn abzuholen. Also, was ist, wollen Sie mich begleiten?«
Er seufzte. »Alina, ich weiß wirklich nicht, wie Sie aus dieser schwierigen Situation wieder herauskommen wollen. Ihr Vater wurde von einem meiner Mitbrüder ermordet, in Thailand sind Sie Opfer einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd geworden. Außerdem hat jemand Ihr Haus hier in Frankreich angezündet und Ihren Freund angeschossen. Sie sind zurzeit permanent in Lebensgefahr!«
»Sie meinen, selbst ein Blinder sieht, dass ich in der Bredouille stecke! Vielleicht ist das ein guter Grund, hier nicht weiter rumzuhängen.«
»Sie sitzen sogar sehr tief in der Bredouille, Alina!«, sagte Sandino nachdenklich.
»Lieber in der Scheiße als im Grab«, gab Alina mit entschuldigender Geste zur Antwort, griff zum Lenkrad, startete den Motor und fuhr los.
Sie fuhren schweigend durch den belebten Straßenverkehr, bis Alina das Radio anmachte. Während die gedämpften Klänge aus dem Radio im Inneren des Wagens ertönten, grub sich Sandino tiefer in seinen Sitz und rieb sich die Schläfen. Sie hatte auf alle Fälle recht. Irgendwie wollte er es nicht zugeben, doch sie hatte keine andere Wahl. In dieser Stadt zu bleiben, wäre für sie im Moment zu gefährlich. Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht, dann warf er einen erschöpften Blick auf Alina.
»Danke«, murmelte sie.
»Wofür?«
»Dass Sie mich trotz allem begleiten.« Sie wandte den Kopf und schaute ihm in die Augen.
»Sind Sie sicher, dass wir direkt nach O’Cebreiro fahren sollen? Es ist jetzt fast fünf Uhr nachmittags. Der Wagen ist von den Einschüssen ziemlich
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