Wächter des Mythos (German Edition)
Christus. Sehr viele Blutopfer hatten die Götter der Vergangenheit schon als Tribut gefordert, unzählige Menschenleben in endlosen Schlachten. Der Schlachtruf »Gott will es!« war inzwischen verklungen. Doch »Gott will es!« schrien einst auch die Päpste und Bischöfe, während ihre Anhänger in Gottes Namen schlachteten.
Sandino verdrängte den Gedanken und fragte sich nun, ob das heilige Wunderblut in den Kristallmonstranzen aus dem 14. Jahrhundert sich auch wieder zu seinem Ursprung, zu Wein verwandeln würde. Da schob sich unverhofft ein Schatten vor das Portal, worauf eine dunkle Silhouette ihren Fuß über die Schwelle setzte und in die Kirche trat. Während das Licht hinter ihr ungehindert ins Innere flutete, kniff Sandino geblendet die Augen zusammen. Als er sie wieder aufmachte, stand der Dorfpfarrer bereits vor ihm.
»Was halten Sie von meiner Kirche?«, fragte er herausfordernd.
»Was soll ich dazu sagen?«, antwortete Sandino überrascht und fügte verwirrt hinzu: »Wenn wir vom Blutwunder sprechen, ist diese Kirche für mich beinahe eine der letzten Bastionen der gutgläubigen Seelen.«
»Das klingt aus dem Mund eines Priesters etwas merkwürdig, aber Sie sehen ja auch nicht aus wie ein Priester.« Er musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle und betrachtete voller Verachtung seinen erstklassig geschnittenen dunklen Anzug.
»Ich bin Padre Sandino de Vegio aus Rom«, sagte Sandino und streckte ihm die Hand entgegen, aber der Pfarrer dachte nicht daran, sie zu ergreifen. Seine dunklen Augen blickten ihn feindselig an.
»Sie gehören nicht zu jenen, die sich in den bescheidenen Sandalen der Jünger wohlfühlen. Was haben Sie also in meiner Kirche verloren?«
Während Sandino langsam die Hand zurückzog, musterte er den Pfarrer. Aus nächster Nähe wirkte er kleiner und drahtiger als am Abend zuvor, sein weißes Haar stand zum Teil wirr in alle Richtungen und unter der Soutane, die er jetzt trug, schauten abgetragene Schuhe hervor.
»Ich war gestern Abend in Ihrer Messe und wollte mich hier in Ruhe noch ein bisschen umsehen«, erwiderte er höflich und sah sein Gegenüber an, aus dessen tiefen Augenhöhlen ihn unfreundliche Blicke trafen. Der Pfarrer schien alles andere als begeistert von ihm zu sein und Sandino merkte, wie kritisch er ihn begutachtete.
»Sie haben kein Recht, hier herumzuschnüffeln! Dies ist meine Kirche, nicht irgendeine.«
Sandino legte versöhnlich die Hand aufs Herz, dabei kam seine Golduhr zum Vorschein, für die er jetzt einen weiteren tadelnden Blick erntete. »Ich wollte nur ein paar Informationen«, gab ihm Sandino sanft zur Antwortet, obwohl er ahnte, dass die Begegnung in einem Fiasko enden würde. Er versuchte einen weiteren Anlauf: »Es gibt da ein paar Dinge, die wir in aller Ruhe besprechen sollten.«
»Mit Ihnen habe ich nichts zu besprechen«, bemerkte der alte Pfarrer unwirsch.
Für einen Augenblick fehlten dem Gesandten aus Rom nun doch die Worte. Auf diese Weise abgewiesen zu werden, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.
»Verzeihen Sie«, entgegnete Sandino, und zog aus der Innentasche seiner Jacke ein Schreiben heraus, »aber ich glaube doch sehr, da täuschen Sie sich wirklich. Ich bin Sonderbeauftragter des Papstes, hier das Empfehlungsschreiben des Staatssekretariats aus Rom.«
»Sie halten sich wohl für etwas Besseres! Spielen hier den Vermittler des Heiligen Stuhls. Ihr Empfehlungsschreiben interessiert mich nicht!«, sagte der Pfarrer verächtlich und wandte sich abrupt zum Gehen.
Unter größter Selbstüberwindung raffte sich Sandino zu einem letzten Versöhnungsangebot auf, denn er wollte nichts unversucht lassen und ein reines Gewissen behalten.
»Das sind sehr harte Worte. Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen einen Streit vom Zaun zu brechen, sondern um ihnen meine Hilfe anzubieten«, rief er dem Alten nach. Nun fühlte er sich erlöst. Noch näher zu Kreuze kriechen konnte er nicht, mehr Demut und christliche Nächstenliebe waren jetzt nur noch fehl am Platz. Er würde dem Pfarrer lehren, dass er nicht als Einziger den Zorn Gottes in dieser Welt vertrat.
Der Pfarrer war vor dem Altar stehengeblieben, um eine Kniebeuge zu machen. Sandino hörte, wie er ein kurzes, humorloses Lachen ausstieß.
»Mir helfen? Ich wüsste nicht, wobei mir einer wie Sie helfen könnte.« Seine Stimme hallte im Kirchenschiff nach, während er sich aufrichtete, um sich noch einmal umzuwenden. »Ich kenne die Leute von Ihrem Schlag zur Genüge … Sie
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