Wächter des Mythos (German Edition)
Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Gerne hätte er seine Fingerkuppen sanft auf ihre Stirne gelegt und wäre der weichen Linie ihrer Wangen bis zum Mund gefolgt.
Wahrscheinlich hätte es Sandino mit den meisten schönen Frauen, die seinen Weg kreuzten, nicht schwer gehabt. Der Versuchung zu widerstehen kostete ihn daher einiges an Überwindung. Gelegentlich kam er sich wie ein antiker Eunuchen-Priester vor, den sein längst abgenommenes Glied noch immer schmerzte.
Im Geiste entfloh er dann oft zu Bernhard von Clairvaux, dem Vater der Templer, um seine Einsamkeit und seine auferlegte Disziplin besser zu ertragen. Bei dem Gedanken, ein müder und verzweifelter Ritter zu sein, fühlte er sich dann meist besser. Denn die Kraft zur Disziplin bezog Sandino aus dem Gefühl tiefster Verbundenheit mit dem mittelalterlichen Ordensrittertum.
»Alina, kennen Sie die Legende des Blutwunders von O’Cebreiro?«, unterbrach er nun ihr Schweigen.
»Ja, ich habe davon im Internet gelesen. Die geweihte Hostie auf der Patene soll sich in rohes Fleisch und der Messwein im Kelch zu frischem Blut verwandelt haben.«
»In rohes Fleisch?«
»Ja, so habe ich es irgendwo gelesen. Vielleicht könnte sonst ja jemand auf die glorreiche Idee kommen, die Hostie habe sich in einen Hamburger verwandelt, mit einem gut gebratenen Hackplätzchen dazwischen«, sagte Alina amüsiert.
Dieser Gedanke war für den Priester Sandino nun doch zu befremdlich, dennoch konnte er sich ein ungläubiges Lächeln nicht verkneifen. Dabei kam er sich wie dieser Priester aus der Legende vor, der auch an der realen Gegenwart Christi in Wein und Hostie gezweifelt hatte.
* * *
Gabriel war aufgestanden und versuchte, langsam in seinem Zimmer auf und ab zu gehen, denn er wollte so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommen. Er war nervös und konnte es kaum erwarten, das Krankenhaus zu verlassen. Vorausschauend hatte er für übermorgen bereits einen Flug nach Santiago de Compostela gebucht. Er begann, seine bescheidenen Habseligkeiten zu ordnen. Erneut tauchte Alina in seinen Gedanken auf.
Er dachte an die Initiation in der alten Salzmine. Sie hatten gemeinsam diesen Weg der inneren Wandlung vollzogen und dabei war etwas mit ihm geschehen. Er hatte eine Erfahrung gemacht, die sich von all dem unterschied, was er bisher erlebt hatte. Und zwar war es das Wissen, sich in Gesellschaft eines Menschen befunden zu haben, dem er vorbehaltlos vertraute. Vielleicht war es ja auch Alina so ergangen?
Der Umstand, diesen Initiations-Pfad gemeinsam begangen zu haben, hatte eine Verbindung zwischen ihnen geschaffen, die unzertrennlich zu sein schien und den Eindruck erweckte, sich tatsächlich schon ein Leben lang zu kennen. Gabriel hatte fast das Gefühl, in ihr seinen weiblichen Gegenpol gefunden zu haben.
Die Androgynie, die Vereinigung des männlichen und weiblichen Teils in einer einzigen Person, war ja Ausdruck einer antiken Vollkommenheit. Doch konnten nicht auch zwei Menschen diese Vollkommenheit bilden, indem sie ihren Gegenpol in einem anderen Menschen erkannten? Und konnte diese Einheit als androgyn verstanden werden, als ein Menschenpaar, das ein Leben lag zusammenblieb, da sie zusammen diese polare Einheit bildeten? Doch das war nicht alles, worüber Gabriel zu brüten begann, da war noch mehr. Denn was er für Alina empfand, das spielte sich jetzt auch auf körperlicher Ebene ab. Die Erinnerungen an die letzten gemeinsamen Stunden, an ihre Stimme, an ihren Duft, überfluteten ihn, als sei in seinem Unterbewusstsein ein Damm gebrochen. In seinen Gedanken war nun nur noch sie: Ihre Augen, ihre Nähe und ihre Wärme.
Gabriels Blick traf unverhofft den Badezimmerspiegel, der ihm das Bild eines Unbekannten zurückwarf. Ein großer, fremd dreinblickender Mann mit einem Verband um den Schädel, der einem Turban glich, starrte ihn an. In seinem Gesicht sprossen Bartstoppeln und verliehen ihm einen archaischen Ausdruck. Schlagartig wurde Gabriel klar, dass er sich noch ordentlich zurechtmachen musste vor seiner Reise, um dort nicht in jeder x-beliebigen spanischen Kathedrale unübersehbar als Morisk aufzufallen. Vielleicht hülfe ihm ja eine Maskerade, hiervon abzulenken. Ein indischer Schneider könnte ihm über Nacht zu einer weltzugewandten Erscheinung verhelfen.
* * *
Der Tag hatte sich verflüchtigt und der Abend war hereingebrochen. Vor Sandino und Alina lag die Kirche aus grob behauenen Steinquadern. Von der Einfahrt her sahen sie vor dem Kirchentor
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