Wächter des Mythos (German Edition)
sich das einzugestehen. Er wollte sie wiedersehen, sobald er dieses Krankenhaus verlassen hatte. Je früher, desto besser! Gabriel hatte Angst um sie. Gestern war sie zwar wohlbehalten in O’Cebreiro angekommen, doch in Burgos war ihr Schlimmes widerfahren. Vielleicht war es das Beste, von hier aus direkt nach Santiago de Compostela zu fliegen, um ihr von dort aus entgegenzueilen. Zum Glück hatte der Arzt für heute seine letzte Untersuchung angesagt. Wenn alles in Ordnung sein sollte, konnte er sich für morgen einen Flug buchen.
* * *
Die frische Höhenluft ließen Alina und Sandino etwas länger schlafen als vorgesehen. Nach einem ausgiebigen Frühstück schlenderten sie dem kurzen, gepflasterten Straßenstück zwischen den wenigen, meist zweigeschossigen Steinhäusern entlang. Dann folgten sie einem Feldweg und genossen die herrliche Aussicht über das Bergland im goldenen Schein der Morgensonne. Beiden tat nach der langen Fahrt von Avignon über Burgos nach O’Cebreiro die freie Natur gut.
Sie folgten einem kleinen Weg, vorbei an einer Wiese mit zahllosen, blühenden Krokussen, der sie in den Wald führte. Das Licht der Sonne, das zwischen den Kiefern hindurchflackerte, warf lange Schatten auf den mit Tau bedeckten Waldboden. Ein bizarres Schauspiel boten Spinnennetze, an denen sich die Tautropfen aneinandergereiht hatten und im Licht der Sonne wie kleine Diamanten funkelten. Sie kamen zur Straße und folgten ihr zum Pilgerdenkmal.
Diesmal entdeckte Alina am Straßenrand einen Granitstein mit der Jakobsmuschel, der zur Wegmarkierung diente. Die rot bemalte Inschrift machte sie darauf aufmerksam, dass es von diesem Stein noch 147 Kilometer bis Santiago de Compostela waren. Alina hatte große Lust, diesem Weg in den nächsten Tagen zu folgen.
» 147 Kilometer! «, rief Sandino erstaunt, »aber es war doch von einem Katzensprung die Rede. Hoffentlich hält der Inspektor, was er versprochen hat, denn in dieser Kleidung kann ich unmöglich 25 Kilometer am Tag wandern.«
Sie ließen ihren Blick über die Berglandschaft Galiciens schweifen.
»Pilger früherer Jahrhunderte, die die lange und beschwerliche Reise bis hierher überlebt hatten, wurden an dieser Stelle mit dem weiten Ausblick über Galicien belohnt. Sie waren sicher auch froh, von diesem Berg aus nur noch wenige Tagesreisen bis zum Ziel vor sich zu haben«, meinte Alina lächelnd.
»Na ja, wohl auch erleichtert«, sagte Sandino und rieb sich umständlich die Nase, »denn immerhin ist das hier nach den Pyrenäen und Foncebadón bei Cruz de Ferro auch einer der höchsten Punkte des Weges. Damit hatten sie das letzte große Hindernis hinter sich gebracht und konnten ihrem Ziel Santiago gemächlicher entgegengehen.«
Sie wandten sich nun wieder dem kleinen Weiler zu und standen bald darauf vor der Kirche Santa Maria la Real. Das wehrhafte Wesen der Kirche erschien Alina nicht gerade als eine Einladung, die Kirche zu betreten. So entschied sie sich, vorerst noch draußen zu bleiben und sich ein bisschen umzuschauen, während sich Sandino dem Eingang zuwandte.
Das große Tor ließ sich öffnen und so trat er in das Innere der Kirche ein. Wieder empfing ihn ein kalter Luftzug wie aus einer Gruft, während er mechanisch die Hand zur Stirn führte, um sich zu bekreuzigen. Durch die kleinen Fenster und das Tor drang das Tageslicht ins Innere, sodass Sandino die Einzelheiten der dreischiffigen Kirche, auch jene im Dämmerlicht, erkennen konnte. Sandino ging auf dem Mittelgang ein Stück vor und blieb dann zwischen den Bänken stehen. Die vorromanischen Rundbögen trennten die beiden Seitenschiffe und reichten bis unter den Giebel. Links von ihm befand sich in einer Apsis die Figur des Heiligen Benedikt und rechts von ihm wurden die Gerätschaften des Wunders aufbewahrt. Er ging auf den schmucklosen Altar der kleinen Kapelle zu und betrachtete die darüber angebrachte Glasvitrine. Sie war innen blutrot ausgeschlagen, der galicische Kelch und die Patene aus Silber mit Goldeinlage wurden von einer Lampe beleuchtet. In der Vitrine befanden sich auch die Kristallmonstranzen, die Isabella und Ferdinand auf ihrem Weg zu den heiligen Gebeinen für die vorhandenen Reste des heiligen Wunderblutes von O’Cebreiro anfertigen ließen.
In seiner Jugend, erinnerte sich Sandino, hatte es geheißen, man solle nicht an Wunder, sondern an Gott glauben. Heute wusste er es besser, denn um an einen Gott zu glauben, brauchte es Wunder und daher auch das Wunderblut von
Weitere Kostenlose Bücher