Wächter des Mythos (German Edition)
Zeigefinger in das Weihwasserbecken tauchte und sich bekreuzigte. Dann sah er sich um. Am Ende des Kirchenschiffs befanden sich der Altar und dahinter ein einfaches, doch sehr großes Eichenkreuz, an das der gemarterte Jesus in voller Lebensgröße genagelt war.
Erleichtert stellte er fest, dass die Wandlung noch nicht begonnen hatte. Leise schritt er durch den schmalen Mittelgang und nahm in einer Reihe Platz. Neben ein paar Pilgern und alten Menschen, meist Frauen, waren die Bänke nur spärlich besetzt. Der Pfarrer trat im Messgewand an den Altar heran, um das Evangelium zu lesen. Seine ruhige Stimme füllte das schlichte, weiß getünchte Kirchenschiff.
»Das sind die Worte des Herrn«, sagte er und ging zum Altar, während die Gemeinde das Glaubensbekenntnis sprach.
Sandino verfolgte aufmerksam, wie der alte Pfarrer die Wandlung vollzog. Nachdem er die liturgischen Gefäße säuberlich auf dem Altartuch angeordnet hatte, hob er das Heilige Brot in die Höhe; dasselbe tat er mit dem Kelch, in den er aus zwei Messkännchen etwas Wein und Wasser gegossen hatte.
Wie die Gläubigen um ihn herum kniete nun auch Sandino in seiner Reihe, die Hände zum Gebet erhoben. Doch selbst in diesem Moment der Besinnung spielte es für ihn eigentlich keine Rolle, ob es wirklich einen Gott gab, der einen belohnte oder strafte, zur Hölle verdammte oder in den Himmel aufnahm. Das Einzige, was für ihn hierbei zählte, war sein aufrichtiges Mitgefühl mit den ernsten, andächtigen Gesichtern der Gläubigen, die nun ehrfürchtig in den Bänken knieten und beteten. Tief im Herzen gerührt folgte er dem Spektakel der leidgeprüften Gesichter, die voller Ehrfurcht und Hoffnung auf das kleine Stückchen Brot starrten, das der Pfarrer würdig und erhaben in der Hand hielt.
Für den Priester Sandino war der Kern des Christentums einerseits Sünde und Knechtschaft, für den Templer Sandino andererseits Freiheit und Gleichheit. Dass es sich hierbei um einen unvereinbaren Gegensatz handelte, war für sein Leben von großer Bedeutung. Dieser Gegensatz fand sich auch im Christentum selbst wieder, mit dem Alten Testament als einem Regelwerk aus Gesetz und Gewalt einerseits und dem Neuen Testament, das Verständnis und Liebe verkündete, andererseits. Die Bedeutung von Freiheit und Gleichheit der Gotteskinder und von Gesetz und Gewalt der Knechtschaft waren für ihn deshalb so gravierend, weil sie das Grundproblem des Menschen und die Spaltung des christlichen Glaubens ansprachen.
Dabei ging es um die Frage, ob wir als Freie oder als Sklaven lebten, oder Opfer des Lebens waren. Erlösung lag für ihn in der Befreiung aus der Knechtschaft. Denn Jesus selbst hatte weder Gebote noch Doktrinen aufgestellt, er hatte nur an unsere eigene, göttliche Vernunft appelliert: › Sprecht keine Lügen und tut nicht, was Ihr verabscheut!‹ Diese Zeilen aus dem Thomas-Evangelium stellten für Sandino den Kern der Lehre Christi dar.
Die moralischen Appelle, Vorschriften und Gesetze des Alten Testaments waren das knechtische Joch der Unterdrückung, dem die ersten Christen entfliehen wollten. Doch zwecks Führerschaft hatte die Kirche bis heute nicht darauf verzichtet. Erst in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten hatte ein Prozess zur Befreiung aus der Knechtschaft stattgefunden; Verbot des Sklavenhandels, Gleichheit, Meinungsfreiheit, wodurch bestimmte Dogmen der Kirche hinfällig geworden waren. Trotz allem waren viele Menschen Opfer geblieben, stets in Reichweite der Kräfte und Mächte, von welchen sie dominiert wurden.
Dies und mehr ging Sandino durch den Kopf, während die Messe zu Ende ging und die Kirche sich leerte. Sandino saß noch immer still in seiner Bank, selbst nachdem der Pfarrer seinen Schlusssegen erteilte und sich zurückgezogen hatte.
Eine Zeit lang leistete ihm noch eine alte, ganz in schwarz gekleidete Frau Gesellschaft. Während sie still vor sich hin betete, kam der Pfarrer aus der Sakristei, löschte das elektrische Licht, doch ließ er die Altarkerzen noch brennen. Dann verschwand er wieder, ohne von den Bodenfliesen aufzublicken. Nun verließ auch die alte Frau den Kirchenraum und der Gesandte aus Rom blieb alleine in der dämmrigen Kirche zurück.
Sandino ließ sich die Einzelheiten des Blutwunders von O’Cebreiro durch den Kopf gehen, so wie er diese Legende als Priester kennengelernt hatte. Er erinnerte sich an einen Bauern, der sich an einem kalten und stürmischen Tag als einziger in der Kirche eingefunden hatte und
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