Wächter des Mythos (German Edition)
nun vom Priester erwartete, mit ihm die Eucharistie zu feiern. Der die Messe zelebrierende Priester dachte wohl, dass der einfältige Thor, der an das Wunder der Eucharistie glaubte, die Mühe nicht wert sei.
Gleichwohl zelebrierte der Priester die Wandlung und stellte dabei erschrocken fest, dass sich die geweihte Hostie auf der Patene in Fleisch und der Messwein im Kelch zu frischem Blut verwandelten. Das Blut rann darauf aus dem Kelch und befleckte die reine Altardecke, worauf die hölzerne Madonnenstatue der Kapelle den Kopf in Hochachtung vor dem Wunder neigte.
Sandino blickte zur Madonna des Heiligen Wunders hinüber, dann stand er auf und ging durch den Mittelgang über die abgetretenen Bodenfliesen zum Portal. In Gedanken sah er das feierliche Gesicht des Pfarrers vor sich, tief übers heilige Brot gebeugt, einige unverständliche Sätze murmelnd, um seinen Zuhörern Trost und Hoffnung zu spenden. All den Gläubigen ihren gerechten Lohn versprechend und all den Ungläubigen mit ihrer verdienten Strafe im Jenseits drohend.
Sandino überquerte den Kiesplatz und betrat kurz darauf die Steintreppe zur Herberge. Als er sich dann endlich zur Ruhe gelegt hatte, kam ihm vor dem Einschlafen etwas Groteskes in den Sinn. In der Legende des Blutwunders von O’Cebreiro ging es nicht um die Bekehrung eines einfachen Sünders, sondern um einen Priester. Ein Priester, so wie er, wurde hier zur Ordnung gerufen.
Dennoch empfand er diesen Gedanken nicht als Tadel, denn er war sich der Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung und der damit verbundenen Verantwortung bewusst. Auch darüber, dass ein Mensch gut daran tat, immer zu unterscheiden, was weltlicher und was göttlicher Natur an ihm war. Daher verehrte er als Templer und Priester im Namen Gottes und der Humanität den universellen Glauben an die Brüderlichkeit und Gleichheit aller Menschen.
Kapitel 10
Gabriel bewegte sich langsam durch einen langen Korridor. Das Ende war in dem wirren Wechselspiel aus Licht und Schatten nicht auszumachen. Zu beiden Seiten gab es zahllose Türen, die geschlossen waren. Schließlich gelangte er an ein feuersicheres Stahlschott, das mit einem Rad entriegelt worden war und nun weit offen stand. Gabriel fand neben dem finsteren Eingang einen altmodischen Drehschalter, mit dem sich das Licht einschalten ließ, dann lag vor ihm ein großes unterirdisches Gewölbe. Auf sehr hohen Regalen befanden sich Tausende und Abertausende von Büchern. Er trat ein und der Geruch nach altem Papier nahm ihm fast den Atem.
»Alina?«, flüsterte er, erhielt jedoch keine Antwort. Es dauerte einen Moment, ehe er begriff, dass da noch etwas anderes lauerte zwischen all diesen engen düsteren Reihen der Bücherregale. Langsam ging er durch einen Gang, von dem in unregelmäßigen Abständen rechts und links endlos lange Regalreihen abgingen. Immer dann, wenn er glaubte, in den dunklen Schatten eine Bewegung wahrgenommen zu haben, entdeckte er beim abermaligen Hinsehen, dass er sich getäuscht hatte. Immer wieder verzweigte sich der lange Gang. Gabriel zögerte, tiefer in dieses Labyrinth aus uraltem Wissen einzudringen.
Das Unbehagen, das er schon beim Betreten des Raumes verspürt hatte, vervielfachte sich mit jedem Schritt. Ihm war, als könnte er dieses Fremde körperlich spüren, etwas, das schon seit Urzeiten hier gefangen war, in dieser Gruft aus altem Papier. Dann hörte er ein Geräusch. Noch klang es leise und entfernt, doch es näherte sich rasch. Gabriel verharrte.
Getrampel? Nein, wohl eher galoppierende Hufe! Mit einem Mal spürte er den schalen Geschmack von Furcht im Mund. Es war, als könnte er den herben Geruch des wild heranstürmenden Tieres riechen. Es roch nach Erde, nach Blut und Angst. Dann war es ihm, als stünde der Stier direkt vor ihm; schwarz wie die Nacht und von strotzender Kraft und Wildheit. Plötzlich fand er sich blutend im Sand wieder, während Alina in panischer Angst auf ihn zustürmte.
Gabriel erwachte, schweißnass vor Angst. Wieder hatte er von dem Stier geträumt, dem Symbol des wilden, unbeherrschbaren und unberechenbaren alten Naturgottes seiner Träume. Dann kam ihm Alina in den Sinn und augenblicklich war ihm klar, dass er sich ihretwegen nicht nur ernste Sorgen machte, sondern sie auch sehr vermisste.
Er vermisste ihr Lächeln, ihre Ernsthaftigkeit und ihren Zynismus, auch ihre schnippischen Antworten. Er vermisste Alina, weil er sie gern hatte, und auf einmal war es auch gar nicht schwer,
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