Wächter des Mythos (German Edition)
Licht brennen, es stand offen und Sandino machte einige Schritte auf den Eingang zu. Er hörte das Knirschen seiner Schuhe auf dem Kies und sah sich nach einer Möglichkeit um, heimlich in die Kirche zu schleichen. Doch er war sich nicht sicher, ob der Überraschungsmoment hier noch angebracht war.
Alina war Sandino gefolgt. Im Näherkommen sah sie, dass mitten auf ihrem Weg zum Portal eine weiße tote Taube lag. Mit einem Male erschienen ihr die wehrhaften Mauern der Kirche in einem anderen, etwas düsteren, ja nahezu unheimlichen Licht, gegen das selbst die milde Nachtluft und der süße Blütenduft nicht ankamen. Es war, als lag über allem ein unerwartetes, böses Omen. Alina nahm die Pistole – sie hatte das Magazin mehrfach in ihrem Hotelzimmer herausgenommen und überprüft: Es war leer – und drückte sie Sandino in die Hand. Dann gingen sie wie zwei fromme Gläubige an einem trüben Sonntagmorgen andächtig zur Kirchentür.
Alina warf Sandino einen kurzen Blick zu und trat durch das offene Portal, er folgte ihr. Der Kirchenraum war durch ein paar Kerzen schwach erleuchtet, die hinten im Chor beim Altar brannten. Dahinter waren die Umrisse des hölzernen Kreuzes erkennbar, an das die Gestalt des hinscheidenden Christus genagelt war – ein lebensnahes Sinnbild der Erbarmungslosigkeit und der karikierten Menschlichkeit. Plötzlich bewegte sich ein Schatten.
»Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie immer noch am Leben sind.« Aus dem Schatten des Chores trat unverhofft der Dorfpfarrer im Messgewand auf den Altar zu.
»Was wollen Sie damit sagen«, erwiderte Sandino kalt.
Der alte Mann stand hinter dem Altar und lehnte sich, die Hände flach auf die Altardecke gelegt, erwartungsvoll vor. »Ich habe mich heute erkundigt, auf Sie beide wurde in Burgos geschossen, oder etwa nicht?«, antwortete er in höhnischem Ton. »Sie werden also von einem kaltblütigen Killer gejagt, so wie in einem schlechten Kriminalroman!«
»Don Ferrari, was verschweigen Sie uns?«, fragte Sandino mit mühsam beherrschtem Ton und richtete automatisch die Waffe auf den Pfarrer.
Der alte Kleriker lächelte ruhig. »In Burgos wurde vor der Kathedrale auf einen Priester und eine junge Frau geschossen! So stand es heute jedenfalls in der Zeitung. Aufgrund Ihres dramatischen Erlebnisses würde das eine oder andere Gericht Ihnen vielleicht zugestehen, in Umnachtung einen betagten Priester erschossen zu haben. Aber Sie wollten doch Antworten auf Ihre Fragen, oder haben Sie den weiten Weg hierher umsonst gemacht? Genau darum dreht sich doch alles im Leben, nicht wahr, Antworten auf Fragen zu finden …«
»Ach! Sind Sie sich da so sicher?«, erwiderte Sandino abweisend und umfasste den Griff der Pistole fester.
Der Priester tat überrascht und lächelte kalt. »Haben Sie etwa den weiten Weg hierher gemacht, nur um mich zu ermorden?«
»Das wird sich ja noch zeigen«, gab ihm Sandino harsch zur Antwort.
»Worauf warten Sie dann noch?« Der alte Priester sah ihn eindringlich an. »Viel Zeit bleibt Ihnen ja nicht mehr, der Verfolger ist Ihnen sicherlich schon auf der Spur.«
»Wen meinen Sie damit?«, fragte Alina schneidend. Der alte Pfarrer zuckte mit den Schultern.
»Ich kenne leider seinen Namen nicht. Aber ist das, was Sie hier suchen, wirklich Ihr Leben wert?«
»Das lassen Sie mal lieber unsere Sorge sein«, erwiderte Alina trocken.
»Und wenn Sie es finden, was beabsichtigen Sie, damit zu tun? Werden Sie auch zum Verräter an der Kirche, so wie Dr. Bernard? Ich habe Ihrem Vater vertraut, Alina, doch zuletzt hat er alles verraten!«
»Was hat mein Vater verraten , und worum dreht es sich hier in dieser beschissenen Kirche?«, platzte es wütend aus Alina hervor.
Unmerklich schob der Pfarrer seine Hände in die weiten Ärmel des Messgewands, was Sandino misstrauisch machte.
»Bitte! Lassen Sie Ihre Hände da, wo ich sie sehen kann«, fuhr er bissig dazwischen.
Der alte Mann hob entschuldigend seine Hände und tippte sich dann mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Das wirklich Böse haben wir nicht in den Händen, das sollten Sie ja wissen. Letztlich geht es nur um das, was in unseren Köpfen vorgeht.«
»Das brauchen Sie uns nicht zu sagen.« Sandino sah den alten Priester argwöhnisch an. »Sie sollten jetzt besser die Dinge klären, bevor es dafür zu spät ist.«
»Sicher, das versuche ich ja schon. Doch ich fürchte, Sie sind nicht der Priester, der Sie zu sein vorgeben. Sie sind ein zutiefst abgebrühter
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