Wächter des Mythos (German Edition)
Geist gereinigt. Denn dieser Herr Bernard hat die Heiligkeit, Reinheit und Erhabenheit der Lehre der Evangelien beschmutzt !«
Einen Augenblick brauchte Sandino, um das Gesagte und die Situation, in der er sich befand, einzuordnen, dann entgegnete er kühl:
»Eure Eminenz, ich wurde von Seiner Heiligkeit als Apostolischer Delegat mit einem Auftrag in Ihr Land geschickt. Sehr gerne werde ich Seiner Heiligkeit von Eurem Verdruss berichten, wenn es das ist, was Ihr wünscht. Aber ich bin in erster Linie hier, um meinen Auftrag gewissenhaft auszuführen.«
Der Nuntius schwieg und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, worauf Sandino kühl und distanziert erwiderte:
»Es ist schon spät und mein Flug geht morgen in aller Frühe nach Chiang Mai. Ich wünsche Eurer Eminenz eine gesegnete Nacht.«
Darauf stand er auf und verließ das Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.
* * *
Am folgenden Morgen war Alina in aller Frühe, nach kaum sechs Stunden Schlaf, bereits wieder auf den Beinen. Sie stand vor ihrem Haus, während sich die ersten wärmenden Sonnenstrahlen ihren Weg durch den morgendlichen Dunst bahnten. Sie sah über das kleine Tal mit den zahllosen Reisterrassen und auf das glitzernde Wasser des Baches, der ein paar Meter tiefer am Haus vorbeifloss. Ein großer weißer Vogel erhob sich von einem Reisfeld, gewann mit seinen kräftigen Schwingen an Höhe und flog dann an den sich im diesigen Nebel abzeichnenden Konturen der Berge entlang talaufwärts.
Alina dachte an ihre verstorbenen Eltern und fühlte Einsamkeit und Verlassenheit in sich aufsteigen. Sie lauschte den Geräuschen des heiteren Morgen, doch sie spürte nur eine dunkle Nacht tief in ihrem Inneren. Einsam schlug dort das Herz in ihrer Brust. Und stärker als je zuvor pochte das Gefühl einer Heimatlosen, der weder eine Mutter noch ein Vater Geborgenheit schenkte und die haltlos durch das Unbegreifliche dieser Welt irrte. Vielleicht sollte sie heute Morgen einen der zahlreichen Tempel aufsuchen, um durch eine kleine Zeremonie diesem trüben Vakuum im Inneren ihrer Brust zu entkommen.
Alina legte eine Nachricht für Gabriel auf den Tisch und setze sich auf ihr Motorrad. Während sie an dem kleinen Holzhaus auf Pfählen vorbeifuhr, in dem ihre über achtzigjährige Nachbarin lebte, legte sie den Kopf in den Nacken und ließ den Wind in ihren Haaren spielen. Die alte Mae Oui Lah hatte schon ihre Mutter gekannt, sie kam oft am Haus vorbei, um Alina an Tam Boon zu erinnern, an Spenden für den Tempel. Denn gute Taten waren in ihrem Alter wohl das Einzige, was ihr sinnvoll erschien, um für das kommende Leben vorbereitet zu sein.
Sie kam zur Hauptstraße, bog an der nächsten Verzweigung zum Dorf ab, wo Ding mit seinen Eltern lebte, und folgte einem Straßenschild zum Tempel Wat Yangluang . Die dortige Tempelanlage war einer der Orte, die es in dieser Gegend noch zu entdecken galt, und Alina besonders am Herzen lag. Viele der Siedlungen im Tal waren alt, da Mae Chaem an der antiken Handelsroute zwischen Chiang Mai und dem heutigen Myanmar lag.
Noch immer waren die Spuren aus dieser Zeit als Relikte in den Tempelanlagen zu finden, da ein mystischer Schrein aus längst vergangenen Jahrhunderten, dort eine große Buddhastatue, über die, erst Jahrhunderte später wiederentdeckt, der Tempel gebaut worden war. Als Archäologin wäre Alina diesen Spuren gerne auf den Grund gegangen, doch sie war bisher nicht dazu gekommen. Wat Yangluang war für sie ein besonderer Ort, vor allem wegen seiner speziellen Stimmung.
Am heutigen Tag waren dort einige alte Frauen anzutreffen, die zum traditionellen Sarong eine weiße Bluse trugen. Sie hatten kleine geflochtene Körbe bei sich, mit Blumen und allerlei Spenden. In der großen Tempelhalle saßen ein paar alte Männer in Gruppen zusammen und rauchten ihren Tabak oder unterhielten sich leise. Die Frauen beschäftigten sich mit ihren Gaben oder machten sich an die Zubereitung der Betelnüsse, um sich diese später in den Mund zu schieben und sich dann diskret vom roten Saft zu befreiten, der sich beim Kauen bildete. Da sich vom Saft die Zähne schwarz färbten, galt bei diesen Dörflern immer noch die alte Bauernweisheit: ›Nur Hunde habe weiße Zähne.‹
All diese alten Menschen erinnerten Alina an ihre verstorbenen Eltern und ganz besonders an ihren Vater. Sie kniete vor der goldenen Statue nieder, um Buddha als ihr spirituelles Vorbild zu ehren und an ihren Vater zu denken.
Weswegen? Weswegen war
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