Wächter des Mythos (German Edition)
Höhe, Einwohnerzahl und Ortsnamen, ergab leicht die gewünschte Antwort. Laut Tabelle kam nur das auf 1.330 Metern Höhe gelegene Dorf O’Cebreiro in Galicien infrage, mit seinen rund 50 Einwohnern.
»Das kleine Dorf O’Cebreiro hat eine aus Feldsteinen errichtete Kirche, die Santa María la Real. Sie stammt teilweise noch aus vorromanischer Zeit und soll die älteste Pilgerkirche am Weg sein. Auch hat sich dort im 14. Jahrhundert ein Blutwunder ereignet«, sagte Felipe gerade, als Alina mit dem heißen Kaffee ins Wohnzimmer kam.
»Ich habe davon im Internet gelesen«, meinte Alina und stellte die Tassen auf den Tisch. »Nach der letzten E-Mail von meinem Vater wollte ich mir im Internet einen Überblick über das Gralsthema verschaffen. Dabei bin ich per Zufall auf das Blutwunder von O’Cebreiro gestoßen. Diese Reliquie des Heiligen Wunders ist mir gleich aufgefallen.«
»Und, was hast du nun vor?«, fragte Gabriel, der nach wie vor nicht wusste, was er von den Theorien des Alten halten sollte.
»Als Erstes suchen wir nach dem Kelch meines Vaters, der sich hier im Haus befinden muss«, erwiderte Alina und trank einen Schluck Kaffee, der noch viel zu heiß war, sodass sie sich fast die Zunge verbrannte. »Und dann machen wir uns wie ein Pilgerpaar zum Heiligen Blutwunder nach O’Cebreiro auf den Weg. Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?«
Felipe und Gabriel schienen die Frage zu ignorieren und widmeten sich mit betonter Aufmerksamkeit ganz dem duftenden Kaffee in ihren Tassen.
»Nun«, sagte Felipe schließlich, »ich würde Ihnen sehr gerne behilflich sein, das Mysterium zu ergründen. Vielleicht haben Sie noch irgendwelche Fragen zur Gedankenwelt der Templer?«
»Ich weiß nicht, wie Sie uns helfen können«, sagte Alina und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Wir haben vor Ihrem Eintreffen versucht, uns mit der Templer-Mystik ein wenig vertraut zu machen, zuletzt mit dem Thema der gotischen Kathedralen.«
»Ja, das ist ein sehr interessantes Thema, dem Ihr Vater viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die mittelalterlichen Baukünstler kannten ja keine maßstäblichen Planzeichnungen im heutigen Sinne, die Grundrisse wurden alle nach bestimmten geometrischen Verhältnissystemen entwickelt. Diese Verhältnissysteme sind als Schlüssel zum gesamten Wesen und Geheimnis der Konstruktion von gotischen Kathedralen zu verstehen. In der Mutterfigur sind das gleichseitige Dreieck, das Quadrat und auch der Kreis enthalten, die als kosmische Diagramme durch das Pentagramm und Hexagramm dargestellt werden.«
»Ja, da sind wir stecken geblieben, bei den diversen Verhältnissystemen oder Mutterfiguren. Doch was hat das Ganze mit unserer Suche zu tun?«
Felipe sah Alina einen Moment lang verdutzt an. »Das verstehen Sie nicht? Aber davon rede ich doch die ganze Zeit. Es gibt einen konkreten Zusammenhang zwischen der Architektur der Bauwerke und der mikro-makrokosmologischen Lehre. Ich habe soeben von den Mysterien am Bau der gotischen Kathedralen gesprochen.«
»Nun ja«, Alina setzte sich, »Sie haben von einem Verhältnissystem gesprochen, das sich irgendwelche mittelalterlichen Mystiker als so eine Art Grundriss-System für den Bau der gotischen Kathedralen ausgedacht haben sollen.«
»Richtig. Nur dass diese alten Mystiker eben Templer waren, die den Versuch unternommen haben, alle ihre Geheimnisse und Lehren im Bau der gotischen Kathedrale zu verewigen.« Felipe stellte seine leere Tasse ebenfalls auf den Tisch. »Sie müssen sich eine in der Gotik gebaute Kathedrale wie ein steinernes Glaubensbekenntnis der Templer vorstellen. Nur wer darin zu lesen versteht, kann ihr ganzes Mysterium erfassen.«
»Aber in welchem Zusammenhang steht der Kelch meines Vaters mit dem steinernen Glaubensbekenntnis der Templer?«, fragte Alina beharrlich, denn sie verstand noch immer nicht, worauf der gelehrte Freund ihres Vaters hinauswollte, und tappte nun wieder ziemlich im Dunkeln.
»Also«, begann Felipe geduldig, »diese geometrischen Verhältnissysteme haben als kosmische Diagramme einen sehr tiefen Sinn und Symbolgehalt, der die Ordnung, die Harmonie und die Gesetzmäßigkeit der damaligen Welt umschreibt. Die gesamte Konstruktion der Kathedrale in der Gotik wurde aus dieser Mystik heraus entwickelt, ebenso wie der Code, durch den die jeweilige Botschaft erfasst werden kann.«
»Jetzt verstehe ich! Dieser Code ist auf dem Kelch meines Vaters eingraviert!«
»Richtig«, stimmte ihr Felipe nun erleichtert zu.
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