Wächter des Mythos (German Edition)
Desorientierung von ihr Besitz.
Endlich fühlte sie ganz tief in ihrem Inneren zaghafte Schwingungen. Eine leichte Bewegung von sich ausweitenden Kreisen, als wenn ein einzelner Wassertropfen in diesen stagnierten Teich gefallen war. Etwas, tief in ihr, erwachte nun wieder zum Leben.
» Alina , hörst du mich!«, drang es zuerst leise und dann immer lauter in ihr Bewusstsein. Sie spürte nun Gabriels Hand an ihrem Fuß, er versuchte, sie kräftig zu schütteln. Alina stöhnte laut auf und schnappte nach Luft. Dann wälzte sie sich herum und blieb für einen Moment auf dem Rücken liegen.
»Alina, was ist los mit dir?«
Sie holte tief Luft, bevor sie antwortete. »Kannst du dir vorstellen, wie sich ein Taucher fühlt, der weder unten von oben noch links von rechts unterscheiden kann? So fühle ich mich. Ich brauche noch ein paar Minuten Ruhe, um zu mir zu kommen.«
Gabriel schwieg, Alina knipste ihre Lampe aus und starrte auf das dunkle Felsgestein, das über ihr lag. Ihr Brustkorb hob und senkte sich so stark, dass er fast die Felsen über ihr zu berühren schien. Hier lag sie nun tief unter der Erde und wartete darauf, genug Kraft zu finden, um sich aus dieser Enge wieder zu befreien. Einige Minuten waren verstrichen, als sie einen sanften Luftzug verspürte, der ihr über das vollkommen verschwitzte Gesicht fuhr.
Es begann ein Hoffnungsschimmer in ihr zu keimen, der ihr neuen Mut und Kraft gab. Sie machte ihre Lampe an und drehte sich auf den Bauch.
»Wieder alles in Ordnung?« fragte Gabriel zögernd, nachdem er lange geschwiegen hatte.
»Es geht, doch ich will jetzt hier rau s !«
Auf einmal war Alina dankbar für die soeben gemachte Erfahrung. Denn sie hatte das Innere der Erde als ihr eigenes Innere gespürt, in das wir wie bei einer Meditation hinabsteigen können, um zu unserem Selbst zu gelangen. Der mit sich selbst und seinem Chaos konfrontierte Mensch versinkt in Dunkelheit. Doch in dieser Dunkelheit kann ihm ein inneres Licht erscheinen, das ihn zu einem neuen Verständnis des Lebens empor führt.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als der Höhlengang immer größer wurde, sodass sie nun in gebückter Haltung durch den Schacht laufen konnten. Die dunkle Erde des Höhlenbodens hatte feuchtem Felsgestein Platz gemacht und immer lauter war das Rauschen von Wasser zu hören, das die Luft mit feinem Tau durchsetzte. Nach ein paar Metern drang das Wasser stellenweise durch Spalten im Felsgestein durch die Decke und tropfte in langen Fäden auf ihre Köpfe.
Als sie kurz darauf unter einem spärlich fließenden Wasserfall hervorgekrochen kamen, öffnete sich vor ihnen eine große Höhle, die natürlichen Ursprungs zu sein schien. Sie kletterten neben dem kleinen Bach über einige Felsbrocken hinweg, die vor Urzeiten von oben heruntergefallen waren, und erblickten mächtige Stalaktiten, die von der Decke herab in den Raum hineinragten. Dann sahen sie Licht und kamen plötzlich auf einen gepflasterten Platz. Überwältigt von dem Anblick, der sich ihnen bot, blieben sie stehen.
Helle Flammen brannten in den Ecken in vier mit duftendem Öl gefüllten Schalen. In der Mitte dieses kleinen Platzes stand auf einem sechseckigen Sockel ein runder Altar. Größe und Umfang waren dem Merkurbrunnen gleich, doch seine Plattform zierte ein sonderbares Relief. Zwei übereinanderliegende, gleichschenklige Dreiecke waren so exakt in die kreisrunde Fläche des Altars gemeißelt, dass ihre Außenkanten einen sechszackigen Stern, ein Hexagramm, ergab. In die sechs Spitzen der beiden Dreiecke waren runde, schalenförmige Vertiefungen gehauen. Die Vertiefungen in den drei unteren Ecken des Dreiecks waren mit Salz und jene in den drei oberen Ecken mit Schwefel gefüllt.
Von den mit Schwefel gefüllten Vertiefungen des oberen Dreiecks liefen drei tiefe Rillen auf ein kreisförmiges Zentrum zu, wo sie in einer ringförmigen Rille mündeten, die sich um ein kreisrundes Monogramm zog. Formschön war dort eine Sonne mit dem Gesicht eines Halbmondes in Gold und Silber zu sehen.
* * *
Für den Hacker Sebastiano war es fast ein Kinderspiel, über das Internet herauszufinden, auf welchem Flughafen in Frankreich Alina und Gabriel zuletzt gelandet waren. Er kannte die Wagennummer ihres Mietautos und wusste aus den Unterlagen des Anwalts von Alinas Vater sogar die genaue Adresse des Hauses in Frankreich.
Soeben war er aus Paris kommend in Nîmes gelandet, hatte sich dort ein Auto gemietet und stand nun vor dem alten Haus.
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