Wächter des Mythos (German Edition)
Artikel sofort seine Aufmerksamkeit. Der Verfasser war darum bemüht, die im Christentum zusammengefassten Kulte voneinander abgrenzend zu beschreiben: von der Täufersekte im Urchristentum bis hin zum römischen Mithraskult , von dem das Christentum ja Teile der Bräuche übernommen hatte; er widmete sich aber auch dem römischen Kybele- und Attiskult , der bis heute auf tragische Weise das Papst- und Christentum prägt.
»Was genau sind Papst und Vatikan im Christentum heute?«, getraute sich Sandino heimlich die Frage. »Etwa ein rein viriler Mysterienkult?«
Belustigt las er vom Mythos des römischen Kybele- und Attiskult . Vom zwitterhaften Gott Agdistis , den die übrigen Götter aus Strafe kastrierten. Der so von seiner Männlichkeit getrennte Agdistis wurde zur Göttermutter Kybele , sein männlicher Teil zum Gott Attis . Da Kybele und Attis ja ursprünglich eine Person gewesen waren, bestand zwischen ihnen eine gegenseitige Anziehung.
Als Attis eines Tages der Kybele eine Sterbliche vorzog, wurde er von ihr aus Eifersucht mit dem Wahnsinn geschlagen. Daraufhin entmannte sich Attis in seinem Wahn unter einer Pinie selbst und verblutete dabei. Seither trauerte die Kybele um Attis, um den argen Verlust des männlichen Teils ihres Wesens.
Im Brauchtum um die Göttermutter, umgeben von einer Priesterschaft aus Eunuchen, setzte daraufhin ein Kult der Beweinung ein, den ein jährliches großes Fest krönte. Die Pinie, als Symbol des Baumes, unter dem der Unglückliche sich entmannt und den die Göttermutter daraufhin zum Trost ihres Kummers geheiligt hatte, zierte die Kultstätte des Festes wie ein schöner bunter Weihnachtsbaum.
Obwohl ein Auferstehungsmythos nicht belegt war, pries ein römischer Altar aus dem Jahr 376 den Unglücklichen mit den Worten ›In aeternum renatus‹ als wiedergeboren in Ewigkeit. Zwar war die Inschrift der einzige sichere Hinweis auf einen Auferstehungsritus im Kybele- und Attiskult , doch wurde seit jener Zeit die thronende Gottheit Kybele als Heilige Mutter und Jungfrau mit dem Kind – Attis – im Schoß verehrt.
Etwas befremdet blickte Sandino auf den Artikel, während die Gedanken in seinem Kopf explodierten: War der Ursprung seiner Priesterschaft unter dem Keuschheitsgelübde eine Gemeinschaft von Eunuchen, die in grauer Vorzeit die Gottesmutter verehrten? Auch unser Weihnachtsbaum schien mit dem Kybele- und Attiskult eher verwandt zu sein als mit dem Christentum oder Jesus. Und was verband diesen virilen Mithraskult mit dem Vatikan?
Wer trug denn heute noch die Mitra, ein rotes Gewand, einen Ring und Hirtenstab – Insignien, die einst auch Amtszeichen der höchsten Priester des Mithraskults waren? Und auch der Sonntag galt zwar als ein christlicher Ruhetag, doch war er in seinen Ursprüngen dem Sonnengott Mithras geweiht. Selbst der Geburtstag von Mithras, der 25. Dezember, war durch einen Bischof in Rom im 4. Jahrhundert zum Geburtstag von Jesus umgedeutet worden.
» Prüfe nicht, sondern glaube! Dein Glaube wird dich retten «, murmelte Sandino benommen vor sich hin und legte die Zeitung beiseite. Dann lehnte er sich zurück und schloss erschöpft die Augen. Im Geiste sah er die frühchristliche Darstellung einer thronenden Maria mit dem Jesuskind im Schoß vor sich. Doch war er sich nicht mehr sicher, ob es sich um Kybele handelte, die ihren auferstandenen Attis im Schoße trug. Denn allegorisch betrachtete war es die Wiedervereinigung des Göttlich-Weiblichen mit seinem göttlich-männlichen Aspekt.
… Wildes Getöse von Zimbeln und Klappern, dazwischen laut und klagend der Ton von Hörnern. Dann drang enthusiastisches Flötenspiel durch das Klagegeheul der Eunuchen, die wild ihr aufgelöstes langes Haar umherschwangen und wie besinnungslos tanzten. Dabei ritzen sich einige selbst die Schultern und Arme auf, um ihr eignes Blut als Opfergabe der ›Großen Mutter‹ darzubringen. Eine Pinie zierte, prächtiger als ein Weihnachtsbaum, die Kultstätte. Um den Baum herum tobte ein heiliger Tumult. Hingerissen vom Klang der Flöten verstümmelten sich zahllose Jünglinge freiwillig, ohne dabei Schmerz zu empfinden. Sie folgten in entfesselter Leidenschaft dem Beispiel von Attis und verstümmelten sich selbst …
Sandino schreckte aus seinem Halbschlaf auf. Er war eingedöst und hatte dabei das ganze wirre Spektakel wie im Traum an sich vorbeiziehen sehen. Er stand auf, denn es war Zeit, dass er sich um seinen Weiterflug kümmerte.
* * *
Alina hielt eine der
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