Wächter des Mythos (German Edition)
beiden Lampen, während Gabriel die Erde aushob. Sie starrte nachdenklich auf die beiden Schalen mit Erde und Samen, die hinter ihnen auf dem Altar standen.
»Samen müssen nun mal in die Erde, um zu neuem Leben erwachen und keimen zu können. Ich fürchte, es geht hier um unseren symbolischen Tod.«
»Wie dramatisch !«, sagte Gabriel, während er sich mit dem Schaufeln abmühte. »Ich lass’ mich nicht lebendig begraben. Du kannst dich ja da hineinlegen und auf das Keimen warten.«
»Vielleicht wirst du darum aber nicht herumkommen.«
»Was du nicht sagst«, gab er ihr zuversichtlich zur Antwort, während er plötzlich mit seiner Schaufel auf etwas Hartes traf. Als er jetzt abermals dagegen stieß, klang es hohl.
»Klopf nochmal , und vor allem lauter«, sagte Alina spöttisch, »denn vielleicht liegt da ja schon jemand drin, der dir beim Graben hilft.«
Gabriel schaufelte einen hölzernen Zwischenboden frei und versuchte dann vorsichtig, die Bretter zu lösen und aus der Vertiefung zu heben. Nachdem er einige entfernt hatte, war darunter eine schmale, dunkle, gemauerte Grube zu erkennen. An einem Ende der grabesähnlichen Grube gähnte ein dunkles Loch.
»Also, worauf warten wir? Los, nimm deine Taschenlampe, Alina«, stieß Gabriel hervor, »und schlüpf in das Loch! Ich krieche hinterher.«
»Muss ich da wirklich als Erste rein?«, protestierte sie.
Gabriel stöhnte. »Hör mal zu, Alina: Wir sind nicht in der Verfassung, noch länger an diesem Ort zu bleiben, es sei denn, wir legen uns einfach dort zu diesen Knochenhaufen dazu. Deshalb müssen wir jetzt in dieses dunkle Loch, und wenn du da nicht als Erste hineinkriechen möchtest, können wir ja darum losen. Also, Kopf oder Zahl?«
Alina blickte ihn verwirrt an, dann sah sie die Münze, die er aus seiner Hosentasche hervorgezaubert hatte.
»Zahl.«
»Da hast du leider Pech gehabt«, sagte Gabriel, nachdem er die Münze durch die Luft gewirbelt und wieder aufgefangen hatte.
»Ich werde dort drinnen ersticken, aber das ist jetzt ja auch egal!«, sagte Alina lakonisch, stieg in die Grube und kroch in das enge Loch hinein.
Der Schacht war niedrig, es war kaum möglich, auf allen Vieren zu kriechen. Auf dem Bauch zu robben war kein Problem, da die Breite über einen Meter betrug. Gabriel fluchte leise, als er Alina widerwillig folgte. Zum Glück war der Boden des Gangs glatt und sauber, was sich jedoch nach einigen Metern schlagartig änderte. Anstelle des steinernen Bodens spürte Alina die nackte Erde unter Händen und Körper. Rechts und links von sich ertastet sie das grobe Felsgestein. Auf ihre klaustrophobischen Ängste brauchte sie nicht lange zu warten. Doch sie nahm ihren ganzen Mut zusammen.
»Das ist nicht der richtige Moment, Alina«, murmelte sie beschwörend zu sich selbst, »sobald ich hier wieder draußen bin, kann ich mir diesen Luxus ja wieder erlauben. Doch jetzt muss ich diese verflixte Angelegenheit hinter mir bringen und durch diese Enge kriechen.«
Kaum hatte sie neuen Mut gefasst, sah sie im Staub vor sich die ersten Knochensplitter liegen und wurde von neuer Panik erfasst. Gabriel bemerkte ihr Zögern.
»Ist alles in Ordnung?«, rief er ihr von weiter hinten zu.
»Ach, es ist nichts«, murmelte sie verlegen, »nur ein paar menschliche Knochen.«
Sie hatte sich kaum bewegt, als der Lichtkegel ihrer Taschenlampe auch schon das erste Schädelfragment erfasste. Alina war augenblicklich der Verzweiflung nahe. Mit einem Schlag stand ihr die Unausweichlichkeit der Situation vor Augen, in der sie sich befand. Alle inneren Kräfte, mit denen sie sich gegen die Klarheit dieser Erkenntnis gewehrt hatte, versagten:
Sie lag tief unter der Erde zwischen fremden Gebeinen in einem engen Loch mit Staub auf den Lippen. Sie zweifelte nun kaum mehr daran, lebendig begraben zu sein, und spürte eine tiefe Verlassenheit und Ohnmacht in sich. Was war, wenn sich dieser Weg als Sackgasse erwies, oder schlimmer noch, wenn sie in diesem dunklen Loch für immer stecken bliebe?
Nigredo, Verfaulung und Schwärzung. Doch noch viel schlimmer, die Vorstellung von Maden, die bei der Zersetzung mithalfen. Plötzlich war Alina in Schweiß gebadet, ihre Kleider klebten ihr an der Haut. Sie konnte kaum noch atmen und alles um sie herum schien in tiefster Finsternis zu versinken. Wie ein stagnierender dunkelschwarzer Teich war ihr Wesen, ohne Wellen und Strömung. Eingeschlossen in dem schwerelosen Vakuum ergriff ein Zustand der vollkommenen
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