Wächter des Mythos (German Edition)
Mit geübtem Blick hatte er es einer eingehenden Prüfung unterzogen. Aufgrund der geöffneten Fensterläden und der unverschlossenen Gartenpforte, vermutete er, dass sich die beiden im Haus befanden. Dennoch konnte er sich kein genaues Bild davon machen, was dort drinnen vor sich ging.
Das Haus selbst wirkte zwar klein, doch etwas sagte ihm, dass das, was er hier vor sich hatte, nur die Spitze eines Eisbergs war. Das war seltsam und verwirrend. Dieses Haus schien wie verhext und mit seinen dicken Mauern und den kleinen Fenstern für ihn unzugänglich zu sein.
»Drinnen verschmelzen wohl Satanskult und Häresie in eins«, brummte Sebastiano hasserfüllt. »Man sollte den Bau samt Ketzern und Satansdienern ausräuchern. Jawohl! «
Dieser Gedanke gefiel ihm, auch wenn der Begriff Ketzer etwas aus der Mode gekommen war. Heute waren es die Pseudo-Gläubigen, die den Namen des Judas Ischarioth verehren. Morgen waren es vielleicht diejenigen, die den Antichristen als den verlorenen Sohn der wahren Kirche feierten. Doch letztendlich leugneten diese Ketzer alle, wie die Juden, den wahren Gott.
»Wir leugnen nicht den Holocaust an den Juden«, fügte Sebastiano dem Gedanken leise, doch triumphierend hinzu. »Die Bruderschaft bezeichnet das nur anders: Als ein Gottesgericht! «
Er war stolz auf seine Gedanken und stolz auf seinen direkten Draht, denn es war alles von Gott durchwirkt.
» Jawohl! «, wiederholte er siegessicher, obschon er wusste, das ein direkter Draht seiner Seele zu Gott die Aufhebung jeder Form von Heilsvermittlungen seitens der Kirche samt ihrer sakramentalen Handlungen bedeutete. Zudem käme auch die Funktion der Heiligen als Fürbitter, ja selbst die Erlösertat Christi käme dadurch ins Wanken. Doch seine Seele konnte unmöglich etwas anderes wollen, als Gott es wollte!
»Die Brut ausräuchern . Das ist genau das, was Gott mir raten würde. Jawohl! « Wer sich eins mit Gott wusste, brauchte keine Kirche als heilsvermittelnde Instanz.
Und er wusste, der Bruderschaft war der Papst ja eigentlich auch egal, denn Gott kannte die Seinen allemal. Auf diese römischen Edelpriester, wie er einen von ihnen in seiner maßgeschneiderten Kluft auf dem Flughafen in Paris gesehen hatte, war er nicht angewiesen. » Ein Übel ist die Torheit der römischen Kirche, ein Gut aber die Weisheit der Bruderschaft! «, überzeugte er sich selbst.
Als unbedeutender Diener im kosmischen Ringen zwischen Gott und Satan werde er tun, was getan werden musste. »Als Erstes werde ich diese Satansbrut ausräuchern! Jawohl .«
* * *
»Zweifelsohne hat man uns erwartet«, wisperte Gabriel leise, »diese großen Ölschalen brennen ja nicht von allein.«
» RADIX IPISIUS «, entzifferte Alina die Inschrift des Altars. »Die Wurzel seiner selbst? Ich bin mir nicht sicher, aber vermutlich ist das hier eine Darstellung des Steins der Weisen.«
Gabriel machte ein verblüfftes Gesicht. »So hätte ich mir den Lapis philosophorum, den Stein der Weisen niemals vorgestellt.«
»Ich ehrlich gesagt auch nicht. Um das da zu verstehen, müssen wir uns wohl erst mit der Symbolik des Altars vertraut machen.«
»Im Einklang mit der bisherigen Symbolik der mittelalterlichen Kosmologie«, begann Gabriel mit ernster Miene, »könnten die sechs runden Vertiefungen in den sechs Spitzen auf die sechs Planeten verweisen. Das kreisförmige Zentrum in der Mitte steht für Merkur, den siebten Planeten, der ja als das Eine alles andere in sich selbst enthält. Die drei Rinnen, die zu Merkur ins Zentrum führen, repräsentieren wiederum die drei Prinzipien der Einheit, daher die Dreieinheit als höchstes Wirkprinzip.«
»Gut, sehr gut! Das Hexagramm gilt in der Tat als Symbol für den Makrokosmos, der das antike Weltbild mit den damals bekannten Planeten umfasste. Analog zum hermetischen Grundsatz der Entsprechung ›wie oben so unten, wie unten so oben‹ wird das Pentagramm als Zeichen des Mikrokosmos gedeutet, also als die Welt des Irdischen und des Menschen. Mit seinen fünf Ecken symbolisiert das Pentagramm den aufrecht stehenden Menschen, der sich in den fünf alchemistischen Elemente manifestiert: Feuer, Erde, Wasser, Luft und Äther oder Geist.«
» Wie oben so unten, wie unten so oben ? Was soll das denn nun wieder heißen?«
»Eine andere, dir ja vielleicht geläufigere Ausdrucksform dieses Grundsatzes wäre: Wie im Kleinen, so im Großen . Dieses Prinzip veranschaulicht die mittelalterliche Mikro-Makrokosmos-Vorstellung als Prinzip der
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